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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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unglaublicher Unordnung war, nur den kleinen Gustave, der halbnackt, mit ganz bleichem Gesicht, vergessen und zähneklappernd, unbeweglich auf dem Sofa saß, auf dem er zu schlafen pflegte. Ausgeleerte Koffer versperrten den Weg, Wurst- und Speisereste beschmutzten den Tisch, das Bett des Vaters und der Mutter schien von der Katastrophe gleichsam verwüstet, die Decken waren heruntergezerrt und auf die Erde geworfen worden. In demselben Augenblick bemerkte er auch im zweiten Zimmer die Mutter, die in der Eile ein altes gelbes Morgenkleid übergeworfen hatte und nun mit entsetzter Miene da stand.
    »Nun, meine Liebe?« wiederholte Herr Vigneron stotternd.
    Ohne zu antworten, zeigte Frau Vigneron mit einer Handbewegung auf Frau Chaise, die, den Kopf auf das Kissen zurückgeworfen, die Hände verdreht und steif, sich nicht mehr rührte. Das Gesicht war blau, der Mund stand weit offen.
    Pierre hatte sich vorgeneigt. Dann sagte er mit leiser Stimme:
    »Sie ist tot!«
    Tot! Dieses Wort hallte im besser gehaltenen Zimmer, in dem ein dumpfes Schweigen herrschte, wider. Bestürzt und erstaunt blickten sich die beiden Gatten an. Es war also zu Ende? Die Tante starb vor Gustave, und der Kleine erbte fünfmalhunderttausend Frank. Wie oft hatten sie diesen Traum gehegt, dessen plötzliche Verwirklichung sie verblüffte. Wie oft hatte sie in der Befürchtung, der Kleine könne vor ihr sterben, die Verzweiflung erfaßt! Tot! Mein Gott, war denn das ihre Schuld? Hatten sie das wirklich von der Heiligen Jungfrau erbeten? Sie zeigte sich ihnen gegenüber so gütig, daß sie zitterten, keinen Wunsch mehr aussprechen zu können, ohne erhört zu werden. Schon in dem Tode des Vorgesetzten, der so plötzlich dahingerafft worden war, um ihnen seine Stellung zu überlassen, hatten sie den mächtigen Finger Unserer Lieben Frau von Lourdes erkannt. Und nun überhäufte sie sie von neuem mit Gnadenbeweisen und hörte sogar auf die unbewußten Träumereien ihrer Wünsche! Und doch hatten sie niemandem den Tod gewünscht, sie waren brave Leute, einer schlechten Handlung unfähig, hatten ihre Familie recht lieb, beobachteten streng die religiösen Gebräuche, gingen zur Beichte, nahmen das heilige Abendmahl, wie alle Welt, ohne Aufhebens davon zu machen. Wenn sie an diese fünfmalhunderttausend Frank dachten, an ihren Sohn, der zuerst hätte sterben können, an den Ärger, den sie dann empfunden hätten, wenn sie einen andern, minder würdigen Neffen dieses Vermögen hätten erben sehen, so lag das alles nur im tiefsten Grunde ihres Herzens verborgen und war ja schließlich naiv und natürlich. Gewiß hatten sie vor der Grotte daran gedacht, aber besaß die Heilige Jungfrau nicht die höchste Weisheit, wußte sie nicht, besser als wir selbst, was sie zum Glück der Lebenden und Toten tun mußte?
    Nun brach Frau Vigneron ganz aufrichtig in Schluchzen aus und beweinte ihre Schwester, die sie sehr liebte.
    »Herr Abbé, ich habe sie sterben sehen, unter meinen Augen ist sie verschieden. Welch ein Unglück, daß Sie nicht früher gekommen sind, um noch ihre Seele zu empfangen. Sie ist ohne Priester gestorben, Ihre Anwesenheit hätte sie so getröstet.«
    Zärtlich und gerührt tröstete Herr Vigneron seine Frau:
    »Deine Schwester war eine Heilige, sie hat noch gestern vormittag das heilige Abendmahl empfangen, und du kannst unbesorgt sein, ihre Seele ist geradeswegs zum Himmel aufgestiegen. Gewiß, wäre der Herr Abbé zur rechten Zeit gekommen, es hätte ihr Vergnügen gemacht, ihn zu sehen. Aber was willst du? Der Tod war eben schneller. Ich bin sogleich zu ihm geeilt, und wir haben uns bis zuletzt keinen Vorwurf zu machen.«
    Dann wandte er sich an den Priester:
    »Herr Abbé, ihre allzu große Frömmigkeit hat die Krisis sicher beschleunigt. Gestern hatte sie in der Grotte schon einen Erstickungsanfall, dessen Heftigkeit bezeichnend war. Aber trotz ihrer Schwäche hat sie darauf bestanden, der Prozession zu folgen. Ich dachte mir wohl, sie würde nicht weit kommen. Es war jedoch eine heikle Sache. Aus Furcht, sie zu erschrecken, wagte man nicht, ihr etwas zu sagen.«
    Leise kniete Pierre nieder und sagte mit der echt menschlichen Bewegung, die bei ihm die Stelle des Glaubens vertrat, die üblichen, angesichts des ewigen Lebens, des ewigen Todes, so armseligen Gebete her. Dann blieb er einen Augenblick auf den Knien liegen und hörte die zischelnden Stimmen des Ehepaares.
    Den kleinen Gustave, der in der Unordnung des Nebenzimmers auf seinem Bett

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