Lourdes
vergessen worden war, mußte wohl Ungeduld erfaßt haben, denn er weinte und schrie:
»Mama, Mama, Mama!«
Endlich ging Frau Vigneron hinaus, um ihn zu beruhigen, und sie hatte den Gedanken, ihn in ihre Arme zu nehmen, damit er zum letztenmal seine arme Tante umarme. Zuerst sträubte er sich, weigerte sich und weinte stärker, so daß Herr Vigneron genötigt war, dazwischen zu treten und ihm zu sagen, er solle sich schämen.
»Gib ihn mir«, sagte er zu seiner Frau, »er wird vernünftig sein.«
Schließlich hing sich Gustave an den Hals seines Vaters. Er war im Hemd, zitterte vor Kälte und zeigte die Nacktheit seines elenden, kleinen Körpers, den die Skrofeln zernagten. Weit entfernt, ihn zu heilen, schien das wunderbare Wasser des Weihers die Wunde an seinen Lenden nur noch weiter aufgerissen zu haben, während sein mageres Bein, einem vertrockneten Stabe gleich, kraftlos herniederhing.
»Küsse sie«, fuhr Vigneron fort.
Das Kind neigte sich herab und küßte seine Tante auf die Stirn. Es war nicht der Tod, der ihn beunruhigte und ihn veranlaßte, sich zu sträuben. Seitdem er da war, betrachtete er die Tote mit einer Miene ruhiger Neugier. Nie hätte er mit lauter Stimme gesagt, daß er sie nicht liebte und daß er unter ihr nur zu lange gelitten hätte. Das waren bei ihm Ideen, Gefühle einer erwachsenen Person, deren Wucht ihn in dem Maße erdrückt hatte, in dem sie sich mit seinen Leiden entwickelten und verstärkten. Er fühlte wohl, daß er zu klein war und daß die Kinder die Dinge, die im Herzensgrunde der Leute vor sich gehen, nicht verstehen dürfen. Sein Vater, der sich abseits gesetzt hatte, behielt ihn auf seinen Knien, während die Mutter wieder das Fenster schloß und die Kerzen der beiden Leuchter auf dem Kamin anzündete.
»Mein armer Junge«, flüsterte er in seinem Bedürfnis zu sprechen, »das ist ein großer Verlust für uns alle. Unsere Reise ist vollständig mißglückt, denn es ist unser letzter Tag, heute nachmittag wird die Rückfahrt angetreten. Und die Heilige Jungfrau, die sich gerade so gütig erwies –«
Aber angesichts des erstaunten Blickes seines Sohnes, eines Blickes unendlicher Traurigkeit und unendlichen Vorwurfs, beeilte er sich fortzufahren:
»Ja, gewiß, ich weiß, sie hat dich nicht vollständig geheilt. Aber man darf deshalb noch nicht an ihrem Wohlwollen zweifeln. Sie liebt uns zu sehr, sie überhäuft uns mit ihrer Gnade und wird dich sicherlich heilen, da sie uns jetzt ja nur noch diese große Gunst zu bewilligen hat.«
Frau Vigneron, die zugehört hatte, trat näher.
»Wie glücklich wären wir gewesen, wenn wir alle drei wohl und munter hätten nach Paris zurückkehren können. Es ist doch nichts vollkommen.«
»Höre mal«, bemerkte plötzlich Herr Vigneron, »wegen der Formalitäten werde ich wohl heute nachmittag nicht mit euch abreisen können. Wenn nur meine Rückfahrkarte bis morgen Gültigkeit behält.«
Erleichtert erholten sich beide, trotz der Zuneigung, die sie für Frau Chaise hegten, von dem furchtbaren Schlage. Sie vergaßen sie bereits und hatten nur noch Eile, Lourdes zu verlassen, gerade, als wenn der Hauptzweck ihrer Reise erfüllt wäre. Eine uneingestandene, verhohlene Freude ergriff sie.
»Ach, wieviel werde ich in Paris zu laufen haben!« fuhr er fort. »Und dabei sehne ich mich doch nur nach Ruhe. Doch das tut nichts. Ich werde meine drei Jahre bis zu meiner Pensionierung im Ministerium bleiben, besonders jetzt, da ich der Pensionierung als Direktor gewiß bin. Aber dann, ja dann denke ich das Leben ein wenig zu genießen. Da wir das Geld erben, will ich in meiner Heimat das Gut Billottes kaufen, das herrliche Fleckchen Erde, von dem ich immer geträumt habe. Und ich bürge euch dafür, ich werde mich nicht schlecht ausnehmen unter meinen Hunden, Pferden und Blumen.«
Der kleine Gustave war auf seinen Knien sitzengeblieben. Er fröstelte an seinem ganzen, armen, verkümmerten Insektenkörper, in seinem halb aufgehobenen Hemde, das die Magerkeit des sterbenden Kindes sehen ließ. Als er bemerkte, daß sein Vater ihn nicht einmal mehr fühlte, sondern ganz in seinem endlich verwirklichten Traum befangen war, trat wieder das rätselhafte Lächeln einer durch Bosheit verschärften Melancholie auf seine Lippen.
»Nun, Vater, und ich?«
Jäh emporfahrend, bewegte sich Herr Vigneron hin und her und schien zuerst gar nicht zu begreifen.
»Du, mein Junge ... Du wirst natürlich bei uns sein.«
Aber Gustave sah ihn nach wie vor mit
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