Lourdes
starren, tiefen Blicken an, ohne daß das Lächeln von seinen schmerzlich verzerrten Lippen schwand.
»So, glaubst du?«
»Gewiß glaube ich das. Du wirst bei uns sein, es wird sehr hübsch bei uns werden.«
Herr Vigneron, der verwirrt nicht die passenden Worte fand, wurde ganz starr, als sein Sohn mit einer Miene philosophischer Verachtung seine mageren Schultern zuckte.
»O nein ... Ich werde bis dahin gestorben sein!«
Entsetzt las der Vater plötzlich alles in dem tiefen Blicke des Kindes, dem Blicke eines sehr alten, in allen Dingen gewitzigten Mannes, der die Qualen des Lebens kennt, weil er sie durchlitten hat. Was ihn besonders entsetzte, war die plötzliche Gewißheit, daß dies Kind ihn stets bis auf den Grund seiner Seele durchschaut hatte, weit über das hinaus, was er sich selbst nicht einzugestehen wagte. Er erinnerte sich, wie die Augen des kleinen Kranken schon von der Wiege an starr auf ihn geheftet gewesen waren, diese Augen, die das Leiden so scharfsichtig machte, die es zweifellos mit der Kraft eines außerordentlichen Ahnungsvermögens begabte, so daß sie selbst die geheimsten, unbewußten Gedanken erforschten. Und infolge einer seltsamen Gegenwirkung fand er die Dinge, die er sich nie gesagt hatte, in dieser Stunde sämtlich in den Augen seines Kindes wieder. Er sah sie, las sie wider seinen Willen. Die Geschichte seiner langen Habsucht rollte sich ab, sein Zorn, einen so verkrüppelten Sohn zu haben, seine Angst bei dem Gedanken, daß das Vermögen der Frau Chaise auf einer so gebrechlichen Existenz beruhe, sein heißer Wunsch, sie möge bald sterben, solange der Kleine noch am Leben war, um ihm die Erbschaft zu sichern. Es war nur eine Frage von Tagen, wer in diesem Zweikampf zuerst verscheiden würde. Denn zum Schluß kam doch wiederum der Tod. Auch der Kleine starb, und er allein steckte das Geld in die Tasche und lebte noch lange in Glück und Freude. Diese entsetzlichen Dinge sprachen klar aus den feinen, schwermütig lächelnden Augen des armen, zum Tode verurteilten Wesens. Sie wurden von den beiden mit solcher Klarheit und Deutlichkeit ausgetauscht, daß es Vater und Sohn vorkam, als wenn sie sich das alles mit ganz lauter Stimme zuriefen.
Aber Herr Vigneron sträubte sich, wandte den Kopf ab und widersprach heftig.
»Wie, du glaubst, du wirst jetzt sterben? Was sind das für Gedanken ... Das ist ja albern. Solche Gedanken!«
Frau Vigneron hatte wieder zu schluchzen angefangen.
»Böses Kind, wie kannst du uns so wehe tun, wo wir bereits einen so grausamen Verlust beweinen!«
Gustave mußte sie umarmen und ihnen versprechen, am Leben zu bleiben. Trotzdem hatte er nicht zu lächeln aufgehört, denn er wußte wohl, daß die Lüge notwendig war, wenn man sich nicht allzusehr betrüben wollte. Er hatte sich übrigens damit abgefunden, seine Eltern glücklich auf Erden zurücklassen zu müssen, da nicht einmal die Heilige Jungfrau ihm auf dieser Welt das kleine Fleckchen Glück geben konnte, für das jedes Geschöpf geboren werden soll.
Seine Mutter legte ihn wieder ins Bett, und Pierre erhob sich endlich in dem Augenblick, da Herr Vigneron das Zimmer anständig hergerichtet hatte.
»Sie entschuldigen mich, nicht wahr, Herr Abbé?« sagte er, den jungen Priester bis zur Tür begleitend, »ich weiß nicht recht, wo mir der Kopf steht. Es ist eine schlimme Viertelstunde, die da durchzumachen ist. Nun, man muß sich eben fügen.« Im Korridor blieb Pierre eine Minute stehen und lauschte auf ein Geräusch, das die Treppe heraufkam. Wieder hatte er an Herrn von Guersaint gedacht und glaubte seine Stimme zu erkennen.
Als er so unbeweglich dastand, ereignete sich ein Vorfall, der ihn in die peinlichste Verlegenheit versetzte. Mit kluger Langsamkeit wurde die Tür des Zimmers, das von dem alleinreisenden Herrn bewohnt wurde, geöffnet, und eine schwarzgekleidete Dame war so leise herausgetreten, daß man kaum Zeit hatte, in der halb geöffneten Tür den Herrn zu bemerken, der, den Finger auf den Lippen, dahinterstand. Als die Dame sich aber umwandte, sah sie sich Pierre gegenüber. Das kam so plötzlich, daß sie sich nicht abwenden und nicht so tun konnten, als hätten sie einander nicht erkannt.
Die Dame war Frau Volmar. Nach den drei Tagen und drei Nächten, die sie in diesem Zimmer der Liebe in vollständiger Abgeschlossenheit zugebracht hatte, verließ sie es am frühen Morgen. Es hatte noch nicht sechs Uhr geschlagen, sie hoffte, von niemand gesehen zu werden und mit der
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