Lourdes
Leichtigkeit eines Schattens durch die leeren Gänge und Treppen verschwinden zu können. Sie hatte auch den Wunsch, sich im Hospital zu zeigen, dort den letzten Vormittag zuzubringen, um ihre Anwesenheit in Lourdes zu rechtfertigen. Als sie Pierre bemerkte, begann sie zu zittern und stammelte zuerst:
»Herr Abbé, Herr Abbé!«
Aber als sie sah, daß der Priester seine Tür weit offengelassen hatte, schien sie dem Fieber, das in ihr brannte, nachzugeben, von ihrer Liebesflamme zu sprechen, sich zu erklären und sich als unschuldig hinzustellen. Mit blutrotem Gesicht ging sie voran und trat in das Zimmer, in das er ihr, von dem Vorfall höchst verwirrt, folgen mußte. Als er dann die Tür noch immer geöffnet ließ, bat sie ihn durch ein Zeichen, sie zu schließen, da sie sich ihm anvertrauen wollte.
»Herr Abbé, ich flehe Sie an, beurteilen Sie mich nicht zu streng.«
Er machte eine Bewegung, als wollte er sagen, daß er sich nicht erlaubte, ein Urteil über sie zu fällen.
»Doch, doch, ich weiß, Sie kennen mein Unglück. In Paris haben Sie mich einmal in Begleitung gesehen. Und neulich haben Sie mich hier auf dem Balkon erkannt. Nicht wahr, Sie ahnten, daß ich hier, in Ihrer Nähe, bei dieser Person versteckt in diesem Zimmer lebte? Aber wenn Sie wüßten, wenn Sie wüßten!«
Ihre Lippen zitterten, und Tränen stiegen in ihren Augen auf. Er blickte sie an und war überrascht von der außerordentlichen Schönheit, die ihr Gesicht verklärte. Diese höchst einfach, stets in Schwarz gekleidete Frau, die nie einen Schmuck trug, erschien ihm im Glanz ihrer Leidenschaft von dem Schatten befreit, in dem sie für gewöhnlich erlosch und verschwand. Sie war auf den ersten Blick keineswegs schön, denn sie war zu brünett und zu unbedeutend mit ihren scharfen Zügen, dem großen Munde und der langen Nase. Je länger er sie prüfend ansah, desto stärker nahm sie einen verwirrenden Zauber an. Besonders ihre Augen, ihre großen, prächtigen Augen, deren Glut sie gewöhnlich unter einem Schleier von Gleichgültigkeit verbarg, brannten wie Fackeln in den Stunden, da sie ganz Hingabe war. Er begriff, daß man sie anbeten, daß man sie begehren konnte, selbst wenn man darüber zugrunde ging.
»Wenn Sie wüßten, Herr Abbé, wenn Sie wüßten, was ich gelitten habe. Es sind Dinge, die Sie zweifellos geahnt haben, denn Sie kennen ja meine Schwiegermutter und meinen Gatten. Die wenigen Male, die Sie zu uns gekommen sind, haben Sie sicher die schauderhaften Dinge erkennen lassen, die sich dort, trotz meiner stets zufriedenen Miene, in meinem kleinen, schweigsamen und traulichen Winkel abspielten. Aber zehn Jahre so zu leben, niemals wirklich zu leben, niemals zu lieben, niemals geliebt zu werden, nein, nein, das habe ich nicht ertragen können.«
Nun erzählte sie die herzzerreißende Geschichte, ihre Ehe mit dem Diamantenhändler, der anscheinend in seinen geschäftlichen Angelegenheiten Unglück gehabt hatte, nannte ihre Schwiegermutter eine harte Kerkermeister- und Henkerseele, ihren Gatten ein Ungeheuer an körperlicher Häßlichkeit und moralischer Verderbtheit. Man sperrte sie ein, man ließ sie sich nicht einmal allein an ein Fenster setzen. Man hatte sie geschlagen, hatte ihre Neigungen, ihre Wünsche, ihre Frauenschwächen unterdrückt. Sie wußte, daß ihr Gatte außer dem Hause Dirnen aushielt, und wenn sie einem Verwandten zulächelte, wenn sie an einem seltenen Tage der Fröhlichkeit eine Blume am Busen trug, dann riß er ihr die Blume fort, bekam Anfälle eifersüchtiger Wut. Er mißhandelte sie. Jahre hindurch hatte sie in dieser Hölle gelebt und trotzdem immer noch gehofft, denn eine solche Lebensfülle, ein so heißes Bedürfnis nach Zärtlichkeit erfüllte sie trotz allem, daß sie das Glück erwartete und stets glaubte, es beim geringsten Hauch eintreten zu sehen.
»Herr Abbé, ich schwöre Ihnen, ich habe tun müssen, was ich getan habe. Ich war zu unglücklich: mein ganzes Wesen brannte danach, sich hinzugeben. Als mein Freund mir zum erstenmal sagte, daß er mich liebe, ließ ich den Kopf auf seine Schulter sinken, und alles war vorbei: ich war sein Eigentum, sein Wesen für immer. Man muß diesen köstlichen Genuß kennen, geliebt zu werden, bei seinem Geliebten nur Regungen der Zärtlichkeit zu finden, Worte der Sanftmut, das beständige Streben, sich zuvorkommend und liebenswürdig zu zeigen, man muß wissen, daß er an uns denkt, daß es irgendwo ein Herz gibt, in dem wir leben, und daß zwei
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