Lourdes
Wesen nur eins ausmachen, man muß den Genuß kennen, sich in einer Umarmung zu vergessen, in der alles versinkt, Körper und Seele ... Oh, wenn das ein Verbrechen ist, Herr Abbé, so kann ich deswegen keine Gewissensbisse empfinden. Ich sage nicht einmal, daß man mich dazu getrieben hat, ich sage, ich habe es ebenso natürlich begangen, wie ich atme, weil es für mein Leben notwendig war.«
Sie hatte die Hand an ihre Lippen geführt, als wenn sie der Welt einen Kuß geben wollte. Pierre fühlte sich bestürzt angesichts dieser liebenden Frau, die die Leidenschaft, das ewige Verlangen selbst war. Dann begann ein unendliches Mitleid in ihm aufzusteigen, und er flüsterte:
»Arme Frau!«
»Nicht dem Priester beichte ich«, fuhr sie fort, »zu dem Manne spreche ich, zu einem Manne, von dem verstanden zu werden ich glücklich wäre. Nein, ich bin keine Gläubige, die Religion hat mir nicht genügt. Man behauptet, die Frauen bescheiden sich damit und finden darin einen starken Schutz gegen den Fehltritt. Ich habe stets ein Gefühl der Kälte in den Kirchen empfunden, ich vergehe dort in der gähnenden Leere. Ich weiß recht wohl, es ist schlecht, Religion zu heucheln und sie scheinbar mit den Angelegenheiten meines Herzens zu vermischen. Aber was wollen Sie, man zwingt mich ja dazu. Wenn Sie mich hier in Lourdes finden, so geschieht das deshalb, weil ich im ganzen Jahr nur diese drei Tage vollkommener Freiheit, vollkommenen Glückes für mich habe.«
Wieder erfaßte sie ein Schauder, und heiße Tränen flössen auf ihre Wangen herab.
»Oh, diese drei Tage, diese drei Tage! Sie können nicht wissen, mit welcher Glut ich sie erwarte, mit welcher Leidenschaft ich sie durchlebe, mit welch ungestümen Gefühlen ich die Erinnerung daran mit mir fortnehme.«
Alles erstand in lebhaften Bildern vor Pierre. Er stellte sich diese heiß ersehnten, wild durchlebten drei Tage und drei Nächte in diesem Hotelzimmer vor, er sah die geschlossenen Fenster und Türen und dachte daran, wie selbst die Dienstmädchen keine Kenntnis davon hatten, daß eine Frau hier eingeschlossen war. Er sah die endlosen Umarmungen, den beständigen Kuß, eine Hingabe des ganzen Wesens, ein Vergessen der Welt, ein Versinken in unauslöschlicher Liebe! Es gab keinen Ort mehr, es gab keine Zeit mehr, nur die Sehnsucht blieb, einander anzugehören, sich wieder und immer wieder anzugehören. Und welch herzzereißender Schmerz zur Stunde der Trennung! Vor dieser Grausamkeit zitterte sie, in dem Schmerz, ihr Paradies verlassen zu haben, vergaß sie sich, trotzdem sie sonst stumm war. Sich ein letztes Mal in die Arme nehmen, sich verschmelzen zu wollen, sich loszureißen und sich zu sagen, wie viele lange Tage, wie viele lange Nächte wohl vergehen würden, bevor man sich nur einmal wiedersehen konnte!
Schmerzerfüllt wiederholte Pierre, als das Bild dieser Qual des Fleisches vor ihm erstand:
»Arme Frau!«
»Und dann, Herr Abbé«, fuhr sie fort, »denken Sie doch an die Hölle, in die ich wieder zurückkehre. Auf Wochen, auf Monate schließt sich mein Himmel, und ohne eine Klage durchlebe ich mein Martyrium. Wieder einmal ist mein Glück zu Ende, zu Ende auf ein Jahr. Großer Gott! Drei arme Tage, drei arme Nächte im Jahr, kann man da nicht wahnsinnig werden? Ich bin so unglücklich, Herr Abbé! Glauben Sie nicht, daß ich trotzdem eine anständige Frau bin?«
Er war tief bewegt von diesem lauten Herzenserguß, von diesem Feuer wahrer Leidenschaft und aufrichtigen Schmerzes. Hier fühlte er den Hauch des allgemeinen Verlangens, eine ungezügelte, hehre Flamme, die alles reinigte. Sein Herz strömte von Mitleid über, und er verzieh.
»Gnädige Frau, ich beklage Sie und achte Sie aufrichtig.«
Nun sprach sie nicht mehr, sondern sah ihn mit ihren großen, von Tränen verdunkelten Augen an. Darauf erfaßte sie mit plötzlichem Drucke seine beiden Hände und preßte sie zwischen ihre glühenden Finger. Dann ging sie von dannen und verschwand mit schattenhafter Leichtigkeit im Hintergrunde des Flures.
Aber als sie nicht mehr da war, litt Pierre unter dem eben Erlebten noch mehr. Weit riß er das Fenster auf, um den Liebesduft, den sie zurückgelassen hatte, zu verjagen. Schon am Sonntag, als er bemerkt hatte, daß eine Frau versteckt im Nebenzimmer wohnte, hatte er diesen Schrecken empfunden und sich gesagt, sie wäre die Rache des Fleisches inmitten der mystischen Verzückung des unbefleckten Lourdes. Und jetzt kehrte diese Angst wieder, er erkannte die
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