Lourdes
Fahrkarten für die Pilgerfahrt bewilligt und könnten sich nicht um die Geschichten der Leute kümmern, die da sterben.«
Frau Vigneron hörte ihm zitternd zu, während Gustave, vergessen, vor Ermüdung auf seiner Krücke wankend, sein armes Gesicht, das eines neugierigen Todkranken erhob.
»Ich habe ihnen schließlich in allen Tonarten zugeschrien, daß hier ganz besondere zwingende Umstände vorlägen ... Was soll ich denn mit der Leiche tun? Ich kann sie doch nicht unter den Arm nehmen und als Gepäckstück fortschleppen. Ich bin also doch gezwungen, dazubleiben ... Nein, was gibt es doch für dumme und boshafte Menschen!«
»Haben Sie mit dem Stationsvorsteher gesprochen?« fragte Pierre.
»O ja, der Stationsvorsteher! Der ist da unten in dem Gewirr, man hat ihn nicht auffinden können. Wie sollen denn die Sachen ordentlich vonstatten gehen bei einem solchen Durcheinander?... Aber ich muß ihn ausfindig machen, ich muß ihm meine Meinung sagen.«
Dann schrie er seine Frau an, die starr und unbeweglich dastand:
»Was machst du denn da? Steig doch ein, damit man dir das Gepäck und den Kleinen hinaufreichen kann.«
Er stieß sie geradezu hinein und warf ihr Pakete zu, während der Priester Gustave in seine Arme nahm. Das arme, vogelleichte Wesen schien noch magerer geworden zu sein, es war mit Wunden bedeckt und litt so heftige Schmerzen, daß es einen leisen Schrei ausstieß.
»Oh, mein Kleiner, habe ich dir wehe getan?«
»Nein, nein, Herr Abbé, ich habe zuviel Bewegung gehabt, ich bin heute abend sehr müde.«
Er lächelte mit seiner feinen und traurigen Miene. Dann kauerte er sich in seinen Winkel und schloß, schon von dem Vorgefühl dieser tödlichen Reise ganz vernichtet, die Augen.
»Sie begreifen«, fuhr Herr Vigneron fort, »es macht mir keinen Spaß, hier allein zu bleiben und unnütz die Zeit zu vertrödeln, während meine Frau und mein Sohn ohne mich nach Paris zurückkehren. Es muß aber wohl sein. Das Leben im Hotel ist nicht mehr auszuhalten, außerdem sehen Sie mich gezwungen, drei Plätze noch einmal zu bezahlen, wenn sie an der Bahn nicht Vernunft annehmen wollen... Dabei ist meine Frau so ungeschickt, sie wird es nie lernen, sich aus einer Verlegenheit herauszuwinden.«
Nun überschüttete er mit dem letzten Aufwand seines Atems Frau Vigneron mit den genauesten Verhaltungsmaßregeln. Er gab an, was sie während der Reise tun sollte, wie sie in ihre Wohnung zurückkehren müßte und wie sie Gustave zu pflegen hätte, wenn er einen Anfall bekäme. Geduldig und ein wenig erschreckt, antwortete sie auf jeden Satz:
»Ja, ja, mein Lieber... Gewiß, mein Lieber...« Dann wurde er plötzlich wieder vom Zorn erfaßt.
»Wird denn meine Fahrkarte nun schließlich Gültigkeit haben, ja oder nein? Ich will es doch wissen ... Ich muß den Stationsvorsteher auf alle Fälle finden!«
Er wollte sich gerade von neuem unter die Menge stürzen, als er bemerkte, daß Gustaves Krücke auf dem Bahnsteig liegengeblieben war. Das war in seinen Augen ein Unglück, das ihn veranlaßte, die Arme zum Himmel zu erheben, um Gott zum Zeugen dafür anzurufen, daß er nie aus so vielen Verwicklungen herauskommen würde. Dann warf er sie seiner Frau zu und entfernte sich, indem er außer sich rief:
»Du, du vergißt alles.«
Jetzt wälzte sich der Strom der Kranken heran. Und wie bei der Ankunft fand in einem allgemeinen Durcheinander wieder ein nicht enden wollendes Hin- und Herfahren der Krankenwagen auf dem Bahnsteig und über die Geleise hinweg statt. All die gräßlichen Übel, alle Wunden, alle Unförmlichkeiten zogen noch einmal vorüber, ohne daß die Gefährlichkeit oder die Zahl geringer erschien, gerade wie wenn die wenigen Heilungen nur den schwachen, kaum wahrnehmbaren Freudenschimmer, inmitten der unendlichen Trauer bildeten. Man brachte sie so fort, wie man sie hergebracht hatte. Die kleinen Wagen mit alten, gebrechlichen Frauen, die ihre Bündel zu ihren Füßen liegen hatten, klapperten auf den Schienen. Die Tragbahren, auf denen aufgedunsene Körper, bleiche Gesichter mit leuchtenden Augen lagen, schwankten unter dem Hin- und Herstoßen der Menge. Es war eine tolle Hast ohne Sinn und Verstand, eine unerklärliche Verwirrung, hier Bitten und Rufe, dort ein eiliges Hin- und Herlaufen. Es war wie das Drehen und Wenden einer Herde, die die Tür zum Stalle nicht mehr findet. Die Träger verloren schließlich den Kopf, sie wußten nicht mehr, welchen Weg sie einschlagen sollten vor dem
Weitere Kostenlose Bücher