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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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die fünfte hatten am Freitag und Sonnabend stattgefunden. Die von einem Strahlenkranze umflossene Jungfrau, die ihren Namen noch immer nicht genannt hatte, begnügte sich, zu lächeln und zu grüßen, ohne ein Wort zu sprechen. Am Sonntag weinte sie und sagte zu Bernadette: »Betet für die Sünder!« Am Montag machte sie dem Kinde den großen Kummer, nicht zu erscheinen, ohne Zweifel, um sie zu prüfen. Am Dienstag vertraute sie ihr ein persönliches Geheimnis an, das niemals bekanntwerden durfte. Dann endlich teilte sie ihr den Auftrag mit, den sie ihr erteilen wollte: »Geh und sage den Priestern, daß hier eine Kapelle gebaut werden muß.« Am Mittwoch murmelte sie zu wiederholten Malen: »Buße! Buße! Buße!« was das Kind wiederholte, indem es die Erde küßte. Am Donnerstag sagte sie: »Geh und trinke aus der Quelle und wasche dich darin, und essen sollst du von dem Grase, das daneben steht«, Worte, die die Seherin erst dann begriff, als eine Quelle im Hintergrunde der Grotte hervorsprudelte. Das war das Wunder des Zauberbrunnens. Dann verfloß die zweite Woche. Am Freitag erschien sie nicht, stellte sich aber an den fünf folgenden Tagen pünktlich ein, wiederholte ihre Befehle und betrachtete lächelnd das demütige Mädchen, das sie erwählt hatte und das bei jeder Erscheinung den Rosenkranz betete, die Erde küßte und auf den Knien bis an die Quelle herankroch, um daraus zu trinken und sich darin zu waschen. Endlich am Donnerstag, dem 4. März, dem letzten Tage dieser geheimnisvollen Zusammenkünfte, forderte sie den Bau einer Kapelle, damit die Völker in feierlicher Prozession wallfahrten sollten von allen Punkten der Erde. Dennoch aber hatte sie bis jetzt auf alle Bitten der Bernadette sich geweigert, zu sagen, wer sie wäre; erst drei Wochen später, am Donnerstag, dem 25. März, sagte die Jungfrau, indem sie die Hände faltete und die Augen zum Himmel aufschlug: »Ich bin die Unbefleckte Empfängnis!« Noch zweimal in ziemlich langen Zwischenräumen, am, 7. April und am 16. Juli, erschien sie: das erstemal wegen des Wunders mit der Kerze, über die das Kind aus Unachtsamkeit die Hand gehalten hatte, ohne sich zu verbrennen. Das zweitemal, um Abschied zu nehmen, um ihr das letzte Lächeln und den letzten Gruß voll liebenswürdiger Anmut zu spenden. Das waren achtzehn Erscheinungen. Seitdem zeigte sie sich niemals wieder.
    Pierre hatte sich gleichsam geteilt. Während er sein schönes Märchen, das die Unglücklichen so gern hörten, erzählte, erweckte er für sich selbst die bedauernswerte und liebe Bernadette, deren Leidensblume so schön geblüht hatte. Nach dem brutalen Ausspruche eines Arztes war dieses vierzehnjährige Mädchen, das in seiner verspäteten Reife von Schmerzen gequält wurde und vom Asthma zugrunde gerichtet war, nichts als eine geistig und körperlich Entartete. Wie viele Schäferinnen hatten schon vor Bernadette in derselben kindlichen Weise die Heilige Jungfrau gesehen! War es nicht immer dieselbe Geschichte: die lichtumflossene Jungfrau, das anvertraute Geheimnis, die hervorsprudelnde Quelle, die zu erfüllende Mission, die Wunder, deren Zauber die Massen bekehren soll? Und immer war es der Traum eines armen Kindes, dieselbe Schilderung des Pfarrgeistlichen, immer das Ideal, aus Schönheit, Sanftmut und Freundlichkeit gebildet, dieselbe Kindlichkeit der Mittel und der gleiche Zweck, Befreiung von Völkern, Erbauung von Kirchen und Wallfahrt von Gläubigen! Gleichartig sind auch alle vom Himmel gesprochenen Worte, Ermahnungen zur Buße und Verheißungen der göttlichen Hilfe. Hier war etwas Neues hinzugekommen, nämlich die außerordentliche Erklärung: »Ich bin die Unbefleckte Empfängnis!«, die wie die nützliche Anerkennung des Dogmas von Seiten der Heiligen Jungfrau selbst klang, des Dogmas, das drüben am päpstlichen Hofe drei Jahre vorher verkündet worden war. Es war nicht die unbefleckte Jungfrau, die erschienen war, sondern die Unbefleckte Empfängnis, die Abstraktion selbst, die Sache, das Dogma. Daß Bernadette die anderen Worte gehört und in einem unbewußten Winkel ihres Gedächtnisses bewahrt hatte, war möglich. Woher aber stammte denn dieses Wort, daß es dem noch umstrittenen Dogma den gewaltigen Beistand des Zeugnisses der Mutter, die ohne Sünde empfangen hat, lieh? Pierre, der von der vollkommenen Glaubwürdigkeit der Bernadette überzeugt war, der sich dagegen wehrte, sie für das Werkzeug eines Betruges anzusehen, wurde von Unruhe gepeinigt, und

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