Lourdes
wollte als ein nachsichtiges Weib, das für menschliche Schwächen Mitgefühl besitzt.
Sie sagte daher:
»Sie ist nicht kräftig und mußte nach einem Hotel gehen, um dort auszuruhen. Man muß sie schlafen lassen.«
Dann verteilte sie die Betten zwischen die Damen und gab jeder zwei davon zu besorgen. Alle ergriffen vollends Besitz vom Krankensaal, indem sie hin und her gingen, um zu sehen, wo die Verwaltung, die Wäschekammer, die Küchen seien.
»Wo befindet sich die Apotheke?« fragte Frau Desagneaux wiederum.
Aber es war keine Apotheke da. Nicht einmal ärztliches Personal war vorhanden. Wozu auch? Die Kranken waren ja alle von der Wissenschaft aufgegeben. Sie waren hoffnungslos und verlangten von Gott die Heilung, die ihnen die ohnmächtigen Menschen nicht versprechen konnten. Logischerweise war daher während der Pilgerfahrt jede ärztliche Behandlung unterbrochen. Wenn eine Kranke in den Todeskampf eintrat, so gab man ihr die Letzte Ölung. Nur der junge Arzt, welcher den weißen Zug begleitete, war da mit einem kleinen Kästchen voll Arzneien.
Gerade führte Schwester Hyacinthe den Doktor Ferrand herbei, den die Schwester Saint-François bei sich in einer benachbarten Wäschekammer behalten hatte, in der er sich aufzuhalten gedachte.
»Gnädige Frau«, sagte er zur Frau von Jonquière, »ich stehe zu Ihrer vollständigen Verfügung. Wenn Sie meiner bedürfen, brauchen Sie nur nach mir zu schicken.«
Sie hörte ihn kaum, denn sie zankte sich mit einem jungen Priester von der Verwaltung, weil für den ganzen Saal nur sieben Nachtgeschirre vorhanden waren.
»Ganz recht, Herr Doktor! Wenn wir einen beruhigenden Trank brauchen ...«
Aber sie vollendete den Satz nicht, sie setzte ihren Wortwechsel fort:
»Kurz, Herr Abbé, trachten Sie, daß ich noch vier oder fünf erhalte. Wie sollen wir uns denn behelfen? Es ist so schon recht peinlich!«
Ferrand hörte zu und blickte um sich, verstört über die seltsame Welt, in welche er geraten war. Er erstaunte über das entsetzliche Elend und Leid, das sich an die Hoffnung auf einen Glücksfall klammerte. Grundsätze, die er als junger Arzt hatte, wurden über den Haufen gestoßen angesichts dieser Sorglosigkeit, dieser Mißachtung der einfachsten Vorschriften der Wissenschaft, die sich auf die Gewißheit gründeten, daß – wenn der Himmel es wollte – die Heilung erfolgen würde, selbst unter Verleugnung der Naturgesetze. Er kehrte in sein Gemach zurück mit der unbestimmten Empfindung, sich schämen zu müssen, da er sich unnütz und ein wenig lächerlich vorkam.
»Halten Sie immerhin Opiumpillen bereit«, erklärte ihm Schwester Hyacinthe, die mit ihm in die Wäschekammer eintrat. »Man wird solche von Ihnen begehren. Wir haben Kranke, die mir Sorge machen.«
Sie richtete ihre großen blauen, sanften und guten Augen mit ihrem göttlichen Lächeln auf ihn. Die Geschäftigkeit, in der sie sich befand, färbte ihre glänzende Haut mit dem rosigen Schein eines lebhaften Blutes. Und als gute Freundin, die einwilligte, das Werk ihres Herzens mit ihm zu teilen, fragte sie:
»Wenn ich jemand nötig habe, um einen Kranken aufzuheben oder ins Bett zu bringen, werden Sie mir wohl helfen?«
Da war er froh, daß er gekommen, daß er hier war, froh in dem Gedanken, daß er ihr nützlich sein könnte. Er sah sie wieder am Kopfende seines Bettes stehen, als er nahe daran war, zu sterben, sah, wie sie ihn pflegte mit den Händen eines Bruders, mit der gütigen, lächelnden Anmut eines Engels.
»Aber soviel Sie nur wollen, meine Schwester!« antwortete er. »Ich gehöre ganz Ihnen und werde sehr glücklich sein, Ihnen zu dienen! Sie wissen, welche Schuld der Dankbarkeit ich an Sie zu entrichten habe.«
Sie legte einen Finger auf seine Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Niemand schuldete ihr etwas. Sie war Dienerin der Leidenden und Armen.
In diesem Augenblick hielt die erste Kranke ihren Einzug in den Saal Sainte-Honorine. Marie war es, in ihrer Holzkiste liegend, die Pierre, von Gérard unterstützt, heraufbrachte. Als die letzte vom Bahnhof weggeführt, war sie nun vor den anderen da, dank der endlosen Verwickelungen, die alle aufgehalten hatten und ihnen nunmehr den Eintritt freigaben, wie es die Verteilung der Karten gerade mit sich brachte. Herr von Guersaint hatte seine Tochter auf deren Wunsch vor der Tür des Hospitals verlassen müssen. Sie beunruhigte sich wegen der Überfüllung der Gasthöfe und wollte, daß er sofort zwei Zimmer suche, für sich
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