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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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von der Stelle weichen.«
    Pierre entfernte sich nicht. Er blieb bei ihr. Einen Augenblick warf er sich zu Boden. Auch er hätte beten mögen mit inbrünstigem Glauben, um von Gott die Heilung dieses Kindes zu begehren, das er mit so brüderlicher Zärtlichkeit liebte. Aber seit er vor der Grotte stand, fühlte er einen Widerwillen, sie zu betreten. Ein dumpfer Aufruhr war in ihm, der die fromme Begeisterung seines Gebetes störte. Er wollte glauben. Er hatte die ganze Nacht gehofft, der Glaube würde als schöne Blume in seiner Seele erblühen, sobald er auf der Stätte des Wunders niedergekniet wäre. Allein er empfand nur Unbehagen und Unruhe angesichts dieses Prunks und dieser steifen Statue im blendenden Widerschein der Kerzen, zwischen der Rosenkranzbude mit ihren sich drängenden Kunden und der großen steinernen Kanzel, von der ein Pater von Mariä Himmelfahrt mit lauter Stimme Aves herabschleuderte. War seine Seele ausgetrocknet? Konnte sie kein göttlicher Tau mit Unschuld tränken und sie wieder den Seelen kleiner Kinder ähnlich machen, die sich der Legende völlig und freudig unterwerfen?
    Trotz seiner Zerstreutheit erkannte er in dem Ordensmann, der die Kanzel einnahm, den Pater Massias. Er wurde trübe gestimmt durch den düsteren Eifer, durch das magere Antlitz mit den funkelnden Augen und dem großen, beredten Mund, der dem Himmel Gewalt antat, um ihn zu zwingen, auf die Erde herabzusteigen. Wie er ihn genau betrachtete, bemerkte er zu Füßen der Kanzel den Pater Fourcade in lebhafter Unterredung mit dem Baron Suire. Dieser schien bestürzt. Auch der Abbé Judaine war anwesend. Sein breites, väterliches Angesicht drückte gleichfalls tiefe Besorgnis aus.
    Mit einem Male erschien der Pater Fourcade auf der Kanzel. Er richtete seine hohe Gestalt, die ein Anfall von Gicht ein wenig beugte, hoch auf. Er wollte nicht, daß sein vielgeliebter Bruder, der Pater Massias, ganz die Kanzel verlasse. Deshalb hielt er ihn auf einer Stufe der Treppe fest und stützte sich auf seine Schulter. Dann begann er mit voller, tiefer Stimme und mit einer gebieterischen Gewalt, die das tiefste Stillschweigen heischte:
    »Meine teuren Brüder! Meine lieben Schwestern! Ich bitte euch um Verzeihung, daß ich eure Gebete unterbreche. Aber ich habe euch eine Mitteilung zu machen: ich muß den Beistand aller eurer treuen Seelen anrufen ... Wir hatten diesen Morgen einen sehr traurigen Unfall zu beklagen. Ein Bruder von uns ist in dem Zug, der euch hierhergebracht hat, gestorben, als er gerade in das Gelobte Land einzog ...«
    Der Pater hielt einige Sekunden inne. Er schien noch größer zu werden. Sein schönes Angesicht, umflossen von dem langen, königlichen Bart, begann zu strahlen. Dann fuhr er fort:
    »Wohlan denn, meine lieben Brüder, meine teuren Schwestern! Trotz alledem dürfen wir nicht hoffnungslos werden ... Wer weiß, ob Gott nicht diesen Tod gewollt hat, um der Welt einen Beweis seiner Allmacht zu geben ... Ich höre eine Stimme, die mich antreibt, diese Kanzel zu besteigen und eure Gebete zu erflehen für den Mann, der nicht mehr ist, und dessen Heil dennoch in den Händen der Heiligsten Jungfrau ruht. Ja, der Mann ist da! Ich habe den Leichnam herbeibringen lassen. Vielleicht hängt es von euch ab, daß ein glänzendes Wunder die Augen der Erde blende, wenn ihr betet mit einem Eifer, der hinreicht, um den Himmel zu rühren ... Wir werden den Leib in den Weiher eintauchen und den Herrn, den Gebieter der Welt, inständigst bitten, denselben wieder zu erwecken und uns dies außerordentliche Zeichen seiner erhabenen Güte zu geben ...«
    Ein eisiger Hauch wehte über die Versammlung. Alle waren bleich geworden, und ohne daß jemand die Lippen geöffnet hätte, schien ein Murmeln des Schauderns durch die Menge zu laufen.
    »Aber«, fuhr Pater Fourcade heftig fort, »mit welcher Inbrunst müssen wir beten! Meine lieben Brüder, meine lieben Schwestern! Es bedarf eurer ganzen Seele! Ich verlange ein Gebet, in welches ihr euer ganzes Herz legt, euer Blut und euer Leben mit all dem, was es Edelstes und Zartestes besitzt ... Betet aus allen Kräften. Betet, bis ihr nicht mehr wißt, weder wer ihr seid, noch wo ihr seid! Betet, wie man liebt und wie man stirbt. Denn das, was wir jetzt begehren, ist eine so kostbare, so seltene und so erstaunliche Gnade, daß einzig das Ungestüm unserer Anbetung Gott bestimmen kann, uns Erfüllung zu gewähren ... Damit aber unsere Gebete wirksam seien, und auf daß sie Zeit gewinnen

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