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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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zu verbringen.«
    Der Priester fühlte, daß ihn ein Schluchzen zu ersticken drohte. Er fand keine Antwort, sondern konnte nur stammeln.
    »Oh, mein guter Doktor, mein alter Freund! Ich habe Sie von ganzem Herzen, von ganzer Seele bedauert!«
    Ein Unglück war es – der Schiffbruch eines ganzen Lebens. Doktor Chassaigne und seine Tochter Marguerite, ein liebenswürdiges Mädchen von zwanzig Jahren, hatten Frau Chassaigne, deren Gesundheit ihnen Sorgen bereitete, in Cauterets häuslich eingerichtet. Sie befand sich nach Verlauf von vierzehn Tagen viel besser und entwarf schon Pläne zu Landausflügen, als man sie eines Morgens tot in ihrem Bette fand. Vater und Tochter waren betäubt durch die Grausamkeit des Schicksals. Der Doktor besaß auf dem Friedhof von Lourdes ein Familienbegräbnis, in dem schon seine Eltern ruhten. Darum wollte er, daß auch seine Frau dort schliefe, wo er bald mit ihr wieder zusammenzutreffen hoffte. Eine Woche lang blieb er noch mit Marguerite in Lourdes, als diese sich eines Abends, von einem Fieberschauer ergriffen, zu Bett legte und den zweiten Tag darauf starb, ohne daß ihr Vater sich Rechenschaft über die Krankheit hätte ablegen können. Der glückliche Mann von gestern, dem zwei teure Wesen angehörten, deren Zärtlichkeit ihm zu Herzen ging, war nur noch ein alter, elender, stammelnder und verlorener Mensch, den die Einsamkeit zu Eis erstarrte. Die Freude seines Lebens war zusammengebrochen. Er beneidete die Straßenwärter, die Steine schlugen, wenn er sah, wie barfüßige Weiber und Mädchen ihnen die Suppe brachten. Er sah davon ab, aus Lourdes wegzuziehen. Er hatte alles im Stich gelassen, seine Arbeiten und seine Kranken, um hier in der Nähe des Grabes zu bleiben, in dem Frau und Tochter ihren letzten Schlaf schliefen.
    »Oh, mein alter Freund!« wiederholte Pierre; »wie habe ich Sie bedauert! Welch entsetzlicher Schmerz ... Aber warum haben Sie sich hier in Ihrem Kummer eingeschlossen?«
    Der Doktor machte eine Geste, die den Horizont umfaßte.
    »Ich kann nicht weggehen von hier«, sagte er; »die Toten sind da und halten mich zurück. Ich warte, bis ich wieder mit ihnen vereinigt werde.«
    Von neuem trat Stille ein. Hinter ihnen flatterten Vögel in den Sträuchern der Böschung, während sie vor sich das Murmeln des Gave vernahmen. Auf dem Hügel ruhte, im goldigen Staub das schwere Sonnenlicht. Aber unter den schönen Bäumen, auf dieser abgelegenen Bank blieb eine köstliche Kühle. Zweihundert Schritte von der Menge entfernt, befanden sie sich allein wie in der Wüste. Niemand riß sich von der Grotte los, um sich bis zu ihnen zu verlieren.
    Sie plauderten lange. Pierre hatte ihm erzählt, unter welchen Umständen er am Morgen mit dem nationalen Pilgerzug und in der Gesellschaft des Herrn von Guersaint und seiner Tochter in Lourdes angekommen war. Da fuhr er plötzlich überrascht in die Höhe.
    »Wie, Doktor!« rief er, »Sie halten jetzt das Wunder für möglich? Sie? Großer Gott! Sie, den ich als ungläubig oder wenigstens als vollständig gleichgültig gekannt habe?«
    Er betrachtete ihn, betäubt von dem, was er ihn über die Grotte und Bernadette sagen hörte. Ein so klarer Kopf, ein Gelehrter von so scharfem Verstand, dessen analytische Fähigkeiten er so sehr bewundert hatte! Wie hatte ein heller, von Erfahrung geleiteter Geist dahin kommen können, die Heilungen anzuerkennen, die durch diese Quelle bewirkt wurden, die die Heilige Jungfrau unter den Fingern eines Kindes hatte hervorsprudeln lassen?
    »Aber, mein lieber Doktor!« sagte er. »Besinnen Sie sich doch! Sie selbst haben ja meinem Vater Notizen über Bernadette geliefert. Und später, als diese Geschichte mich einen Augenblick leidenschaftlich ergriff, haben wiederum Sie lange mit mir von dem Mädchen gesprochen. Für Sie war es nur eine Kranke, ein Kind mit halb erwachtem Bewußtsein. Erinnern Sie sich unserer Gespräche, meiner Zweifel und daran, wie Sie mir geholfen haben, meine Vernunft wiederzugewinnen?«
    War das nicht das sonderbarste aller Abenteuer? Er, ein Priester, hatte sich einst dem Glauben unterworfen, ihn aber im Umgang mit diesem ungläubigen Arzt verloren. Und jetzt traf er ihn bekehrt wieder, gewonnen für das Übernatürliche, während er selbst von der Qual gefoltert wurde, nicht mehr glauben zu können.
    »Sie, der Sie nichts gelten ließen als die exakten Tatsachen und alles auf die sinnliche Beobachtung abstellten! Sie sagen sich also los von der

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