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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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vorbeizogen, bekreuzigten sich. Unter dem strahlenden Himmel, unter den purpurgoldig gefärbten Bergen, zwischen den hundertjährigen Bäumen und in der ewigen Frische des strömenden Gewässers wälzte der Zug seine Verdammten dahin, die Schwindsüchtigen und die Rhachitischen, die Epileptischen und Krebskranken, die Kropfigen, die Närrinnen und die Blödsinnigen. Ave, Ave, Ave, Maria! Der Trauergesang schwoll höher an und führte diese Flut menschlichen Elends der Grotte zu, unter dem Schrecken und Grauen der Vorübergehenden, die sich erschüttert bekreuzigten.
    Pierre und Marie gingen als die ersten durch die hohe Bogenwölbung der einen Rampe. Als sie den Damm des Gave verfolgten, standen sie auf einmal vor der Grotte. Pierre schob Marien so nahe wie möglich an das Gitter. Sie konnte sich in ihrem Wagen nur erheben und murmeln:
    »Oh, heiligste Jungfrau ... Vielgeliebte Jungfrau!«
    Sie hatte nichts gesehen, weder die Einfassungen der Weiher, noch den Springbrunnen mit zwölf Röhren. Sie unterschied auch nicht den Verkaufsstand mit geweihten Gegenständen und rechts die steinerne Kanzel, welche Pater Massias schon bestiegen hatte. Einzig von der leuchtenden Pracht der Grotte geblendet, schien es ihr, als ob dort hinter dem Gitter hunderttausend Kerzen brannten und die niedrige Öffnung mit dem Glanz eines feurigen Ofens erfüllten, während sie die weiter oben am Rand einer gewölbeförmigen Vertiefung aufgestellte Statue der Heiligen Jungfrau mit dem Strahlenkranz eines Gestirns umgaben. Außer dieser glorienhaften Erscheinung sah Marie nichts, weder die Krücken, mit denen man einen Teil des Gewölbes bekleidet hatte, noch die Blumensträuße, die unter den Efeuranken und den Sträuchern der Heckenrosen zu Heu verdorrten. Sie sah nicht einmal den im Mittelpunkt der Grotte aufgestellten Altar neben der Orgel. Aber als sie die Augen erhob, da fand sie am Gipfel des Felsens – am Himmel, die schlanke weiße Basilika wieder. Sie zeigte sich jetzt im Profil mit ihrer feinen Turmspitze, die sich in der Bläue des Unendlichen verlor, gleich einem Gebet.
    »Oh, mächtige Jungfrau ...« flüsterte sie. »Du Königin der Jungfrauen ... Heilige Jungfrau aller Jungfrauen!«
    Inzwischen war es Pierre gelungen, den Wagen Mariens auf den ersten Platz vor den Eichenholzbänken zu schieben, die wie im Schiff einer Kirche unter freiem Himmel hintereinander standen. Diese Bänke waren schon vollständig von Kranken besetzt, die sitzen konnten. Die leeren Zwischenräume füllten Tragbahren aus, die man auf die Erde gestellt hatte, kleine Wagen, ein Haufen von Kopfkissen und Matratzen, auf denen alle Leiden im bunten Gemisch nachbarlich beieinander wohnten. Pierre hatte bei seiner Ankunft die Vignerons erkannt, die mit ihrem unglücklichen Kind Gustave die Mitte einer Bank einnahmen, während er auf den Steinfliesen das Bett der Frau Dieulafay bemerkte. Zu ihren Häupten knieten ihr Mann und ihre Schwester und beteten. Alle Kranken unseres Eisenbahnwagens saßen in einer Reihe: Herr Sabathier und der Bruder Isidor befanden sich Seite an Seite, Frau Vêtu lag erschöpft in ihrem Wagen, Elise Rouquet saß da, und die Grivotte hob sich überreizt auf ihren beiden Fäusten in die Höhe. Er fand Frau Maze wieder, die demütig in ein Gebet versunken abseits saß, indes Frau Vincent auf den Knien lag. Sie hielt ihre kleine Rosa auf den Armen und bot sie mit der Gebärde einer vor Angst vergehenden Mutter inbrünstig der Heiligen Jungfrau dar. Die Menge der Pilger nahm fortwährend zu und verstärkte sich zu einem unabsehbaren, nach und nach bis zur Brustwehr des Gave reichenden Gewühls.
    »Oh, gütige Jungfrau!« setzte Marie ihr Gebet halblaut fort. »Du getreue Jungfrau ... Jungfrau, ohne Sünde empfangen!«
    Sie blickte wie außer sich auf Pierre, während ihre Lippen ein innerliches Gebet bewegte.
    »Wollen Sie«, fragte Pierre, indem er sich zu ihr niederbeugte, »daß ich hierbleibe, um Sie nachher zu den Weihern zu fahren?«
    Sie machte jedoch mit dem Kopf ein Zeichen der Ablehnung. Dann sagte sie, fieberhaft erregt:
    »Nein, nein! Ich will diesen Morgen nicht gebadet werden ... Es scheint mir, man müsse besonders würdig, rein und heilig sein, bevor man das Wunder versucht ... Ich will den ganzen Morgen inständig, mit gefalteten Händen darum bitten. Ich will beten mit allen meinen Kräften, von ganzer Seele ...«
    Sie verlor den Atem. Dann setzte sie hinzu:
    »Holen Sie mich nicht früher ab als elf Uhr. Ich werde nicht

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