Lourdes
aufzusteigen zu den Füßen des Ewigen, wollen wir erst diesen Abend um vier Uhr den Körper in den Weiher hinablassen. Geliebte Brüder, geliebte Schwestern! Bittet, bittet die Heiligste Jungfrau, die Königin der Engel, die Trösterin der Betrübten!«
Und hingerissen in seiner Verzückung, nahm er das Rosenkranzgebet auf, während der Pater Massias in Schluchzen ausbrach. Dadurch wurde das tiefe, ängstliche Schweigen unterbrochen, die Menge wurde angesteckt, stieß Schreie aus, vergoß Tränen und stammelte verworrene, heiße Gebete. Es war wie der Hauch eines Deliriums, das sie ergriff, ihre Willenskräfte aufhob und aus allen diesen Personen ein einziges Wesen bildete, ein Wesen, ganz außer sich vor leidenschaftlicher Erregung, angestachelt zum wahnwitzigen, heißen Verlangen nach dem unmöglichen Wunder.
Pierre hatte einen Augenblick geglaubt, die Erde versänke unter ihm, er würde fallen und ohnmächtig werden. Mit Mühe stand er auf und entfernte sich.
III
Als Pierre sich mit Unbehagen und mit einem unbesieglichen Widerwillen von der Grotte entfernte, gewahrte er Herrn von Guersaint, der in Gedanken versunken auf den Knien lag und mit aller Glaubenskraft betete. Er hatte ihn seit dem Morgen nicht wieder gesehen und wußte nicht, ob er dazu gekommen war, in irgendeinem Gasthof zwei Zimmer zu mieten. Seine erste Bewegung war, sich ihm anzuschließen. Dann zögerte er aber, da er seine Andacht nicht stören wollte. Er ging vorbei. Eben schlug es neun Uhr. Er hatte somit noch zwei Stunden vor sich.
Dort, wo ehemals die Schweine weideten, hatte man aus dem wilden, hohen Flußufer mittelst vielen Geldes eine prächtige, längs des Gave sich hinziehende Allee hergestellt. Es war notwendig gewesen, das Bett des Flusses zu verlegen, um Raum für einen monumentalen Damm zu gewinnen. Die Allee endigte an einem zwei- oder dreihundert Meter hohen Hügel und wurde so zu einem geschlossenen, mit Sitzbänken versehenen und von prächtigen Bäumen beschatteten Spazierplatz. An den heißen Augusttagen genoß man unter den schattigen Bäumen, am Strand des strömenden Wassers eine herrliche Frische.
Pierre fühlte sich auf der Stelle ruhiger. Er prüfte sich selbst und machte sich Sorge wegen seiner Empfindungen. War er denn nicht am Morgen in Lourdes angekommen mit dem sehnsüchtigen Wunsch, zu glauben, mit dem Gedanken, er fange schon wieder an so zu glauben wie in den lenksamen Jahren seiner Kindheit, als seine Mutter ihn die Hände falten ließ und ihn lehrte, Gott zu fürchten? Aber sobald er sich vor der Grotte befand, erfüllten ihn der abgöttische Kultus, der gewalttätige Glaube und der Ansturm gegen die Vernunft mit Widerwillen. Was sollte aus ihm werden? Könnte er nicht versuchen, seine Zweifel zu bekämpfen, indem er die Reise benutzte, um zu schauen und sich zu überzeugen? Er war betrübt über den entmutigenden Anfang, und er bedurfte der schönen Bäume, des klaren Gebirgswassers und der ruhigen, frischen Allee, um seine Erschütterung zu überwinden.
Als Pierre das Ende der Allee erreichte, kam es zu einer unvorhergesehenen Begegnung. Seit einigen Augenblicken betrachtete er einen alten Herrn, der auf ihn zukam. Er war enge in einen Oberrock eingeknöpft. Der Kopf war mit einem flachkrämpigen Hut bedeckt. Er suchte sich dieses bleiche Gesicht mit der Adlernase und den schwarzen, durchdringenden Augen ins Gedächtnis zurückzurufen. Aber der lange weiße Bart und die weißen Locken führten ihn irre. Der Greis blieb stehen und rief mit gleichfalls sehr erstaunter Miene:
»Wie! Pierre – Sie sind es? Hier in Lourdes?«
Plötzlich erkannte der junge Priester den Doktor Chassaigne wieder, den Freund seines Vaters und seinen eigenen Freund, der ihn in der furchtbaren körperlichen und moralischen Krise, die ihn am Tage nach seiner Mutter Tod befallen, geheilt und getröstet hatte.
»Ah, mein guter Doktor, wie bin ich erfreut, Sie zu sehen!«
Sie umarmten sich tief bewegt. Und jetzt, beim Anblick der weißen Haare, des langsamen Ganges und der unendlich traurigen Miene erinnerte sich Pierre an das Unglück, das diesen Mann zum Greis gemacht hatte.
»Sie wußten nicht, daß ich in Lourdes geblieben war? Es ist wahr, ich schreibe nicht mehr. Ich befinde mich nicht mehr unter den Lebenden. Ich wohne im Lande der Toten.«
Tränen erschienen in seinen Augen, dann fuhr er mit gebrochener Stimme fort:
»Da! Setzen Sie sich auf diese Bank! Es wird mir Freude machen, einen Augenblick wie ehemals mit Ihnen
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