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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Wissenschaft?«
    Chassaigne, der bisher still und traurig lächelte, machte jetzt eine ungestüme Gebärde voll höchster Verachtung.
    »Wissenschaft!« rief er. »Weiß ich denn irgendwas? Kann ich irgendwas? ... Sie fragten mich soeben, woran meine arme Marguerite gestorben sei. Ich weiß es nicht! Ich, den man sich so gelehrt vorstellt, so wohl gerüstet gegen den Tod, ich habe nichts von ihrer Krankheit begriffen, habe nichts vermocht. Nicht um eine Stunde konnte ich das Leben meiner Tochter verlängern! Und meine Frau, die ich tot in ihrem Bett fand, nachdem sie den Abend zuvor sich so heiter schlafen gelegt hatte – war ich denn imstande, nur das vorauszusehen, was hätte geschehen müssen? Nein, nein! Für mich hat die Wissenschaft Bankerott gemacht. Ich will nichts mehr wissen; ich bin ein dummer Mensch und ein armer Mensch.«
    Das sagte er in grimmiger Empörung gegen seine stolze und glückliche Vergangenheit. Als er sich beruhigt hatte, fuhr er fort:
    »Ich habe schreckliche Gewissensbisse. Ja, das treibt mich ohne Unterlaß hierher. Es quält mich, daß ich mich nicht von Anfang an vor dieser Grotte demütigte. Meine zwei teuren Wesen würden sich auf die Knie geworfen haben wie alle diese Frauen. Ich wäre aufrichtig mit ihnen niedergekniet, und die Heilige Jungfrau hätte sie mir geheilt und erhalten. Ich Schwachkopf habe nur verstanden, sie zu verlieren. Das ist meine Schuld!«
    Tränen rannen aus seinen Augen. Dann fuhr er fort:
    »Ich erinnere mich, daß meine Mutter mich während meiner Kinderzeit in Bartrès die Hände falten ließ, um jeden Morgen die Hilfe Gottes anzuflehen. Dies Gebet ist mir wieder ins Gedächtnis gekommen, als ich mich allein befand, schwach und verloren wie ein Kind. Was wollen Sie, mein Freund? Meine Hände haben sich gefaltet wie ehemals. Ich war zu elend, zu verlassen und fühlte zu sehr das Bedürfnis nach einem Beistand, nach einer göttlichen Macht, die für mich denken und wollen, die mich einwiegen und in ihrer ewigen Vorsehung von hienieden wegnehmen sollte ... Ach, welche Unordnung und welche Verwirrung in meinem armen Kopf während der ersten Tage! Zwanzig Nächte verbrachte ich ohne zu schlafen. Ich dachte, ich müßte wahnsinnig werden. Allerlei Gedanken schwirrten mir durch den Kopf. Es gab Zeiten der Empörung, während deren ich dem Himmel die geballte Faust wies, um hernach in Selbsterniedrigung zu verfallen, indem ich Gott flehentlich bat, mich nun auch von hier wegzunehmen. Schließlich beruhigte mich die Gewißheit, daß eine Liebe walten müsse, und das gab mir den Glauben wieder. Sehen Sie! Sie haben meine schöne, von Leben strahlende Tochter gekannt. Wäre es nicht die ungeheuerlichste Ungerechtigkeit, wenn es für sie, die ihr Leben nicht genossen hat, jenseits des Grabes nicht etwas Schöneres und Besseres gäbe? Sie muß wieder aufleben. Ich höre sie bisweilen: sie sagt mir, daß wir uns wiederfinden, uns wiedersehen werden. Oh, die teuren Wesen, die man verloren hat – meine liebe Tochter, meine liebe Frau wiederzusehen, und anderswo mit ihnen weiterzuleben, das ist die einzige Hoffnung, der einzige Trost in allen Trübsalen dieser Erde! Ich habe mich Gott geweiht, weil Gott allein sie mir wiedergeben kann.«
    Den Greis überlief ein Zittern. Zuletzt begriff Pierre diese Bekehrung: der Gelehrte war alt geworden, und unter der Herrschaft des Gefühls hatte er sich bekehrt. Zum erstenmal entdeckte der Priester bei diesem Sohn der Pyrenäen eine Art Glaubenserbteil. Er war im Glauben an die Legende erzogen worden, und die Legende zog ihn wieder an sich, nachdem fünfzigjährige wissenschaftliche Studien über sie hingegangen waren. Dazu kam die Ermattung des Mannes, dem die Wissenschaft das Glück nicht brachte und der sich nun wider sie empört. Schließlich erwachte in dem durchs Alter mürbe gemachten Greis das Bedürfnis im Glauben, etwas Gewisses zu besitzen: das gewisse Glück, zu entschlafen.
    Pierre machte keine Einwendungen und spottete nicht. Der Anblick dieses niedergeschmetterten alten Mannes zerriß ihm das Herz. Ist es nicht zum Erbarmen, wenn man die stärksten und erleuchtetsten Männer unter solchen Schlägen zu Kindern werden sieht?
    »Ach!« seufzte er, »wenn ich doch auch so viel zu leiden hätte, daß ich meine Vernunft zum Schweigen bringen, dort drüben hinknien und alles glauben könnte.«
    Wiederum zeigte sich das Lächeln auf den bleichen Lippen des Doktors Chassaigne.
    »Sie meinen die Wunder«, sagte er, »ist es nicht

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