Lourdes
so? Mein Sohn, Sie sind Priester, und ich kenne Ihr Unglück ... Die Wunder scheinen Ihnen unmöglich. Was wissen Sie davon? Sagen Sie sich doch, daß Sie nichts davon wissen und daß das nach unserer Meinung Unmögliche sich zu jeder Minute verwirklicht ... Da! ... Wir haben lange geplaudert; es wird gleich elf Uhr schlagen, und Sie müssen zur Grotte zurückkehren. Aber ich erwarte Sie um vier Uhr. Ich werde Sie zum Büro der ärztlichen Beurkundungen führen und hoffe, Ihnen dort Dinge zu zeigen, die Sie überraschen werden ... Vergessen Sie nicht, um halb vier Uhr.«
Er entließ ihn und blieb allein auf der Bank. Die Hitze hatte zugenommen, die fernen Berghänge brannten im Sonnenglanz. Der Doktor vergaß sich selbst. Er träumte unter dem grünlichen Dämmerlicht des Laubwerks und lauschte auf das Murmeln des Gave, als ob eine Stimme aus dem Jenseits zu ihm spräche.
Pierre beeilte sich, mit Marien wieder zusammenzutreffen. Er konnte das tun ohne allzu große Mühe: die Menge lichtete sich, viele Leute gingen zum Frühstück. Ruhig bei dem jungen Mädchen sitzend, bemerkte er ihren Vater, Herrn von Guersaint. Er hatte am Morgen Lourdes länger als zwei Stunden nach allen Richtungen hin durchlaufen und an der Tür von zwanzig Gasthöfen geklopft, ohne nur den geringsten Bretterverschlag zum Schlafen auftreiben zu können. Selbst die Kammern der Mädchen waren vermietet. Man hätte keine Matratze entdeckt, um sich in einem Korridor auszustrecken. Als er beinahe schon alle Hoffnung aufgab, fand er zwei Zimmer, zwar eng und unter dem Dach, aber in einem der bestbesuchten Gasthöfe der Stadt, dem Hotel des Apparitions. Die Leute, die sie bestellt hatten, hatten soeben telegraphiert, daß ihr Kranker gestorben sei. Mit einem Wort, ein unerhörter Glücksfall, von dem Herr Guersaint ganz aufgeheitert schien.
Es schlug elf Uhr, und der klägliche Krankenzug setzte sich wieder in Gang über die von der Sonne überfluteten Plätze und durch die Straßen der Stadt. Als er am Hospital Notre-Dame des Douleurs ankam, drang Marie in ihre Begleiter, ruhig zum Frühstück zu gehen, dann ein wenig auszuruhen und sie erst um zwei Uhr wieder abzuholen. Aber als die zwei Männer nach ihrem Frühstück in ihre Zimmer hinaufgegangen waren, fiel Herr von Guersaint in einen so tiefen Schlaf, daß Pierre nicht den Mut fand, ihn aufzuwecken. Wozu auch? Seine Anwesenheit war durchaus nicht notwendig. Er ging daher allein ins Hospital zurück. Der Krankenzug stieg aufs neue die Avenue de la Grotte hinab, bewegte sich längs des Plateau de la Merlasse dahin und überschritt in der freudigen Helle des bewunderungswürdigen Augusttages die Place du Rosaire zwischen einer Menschenmenge, die sich schaudernd bekreuzigte.
Nachdem Marie neuerdings vor die Grotte gebracht worden war, fragte sie Pierre:
»Wird mein Vater gleich kommen?«
»Ja; er ruht einen Augenblick aus.«
Sie machte eine Gebärde, die besagen sollte, er tue ganz recht. Und mit zitternder Stimme fügte sie hinzu:
»Hören Sie, Pierre! Holen Sie mich erst in einer Stunde ab, um mich nach den Weihern zu führen ... Ich bin noch immer nicht in einem der Gnade würdigen Zustande. Ich will beten, abermals beten.«
Nachdem sie sich so inbrünstig danach gesehnt hatte, an Ort und Stelle zu sein, regte sie der Gedanke, daß sie das Wunder versuchen sollte, auf. Da sie erzählte, daß sie nichts habe essen können, näherte sich ein junges Mädchen.
»Mein liebes Fräulein«, sagte dieses, »wenn Sie sich allzu schwach fühlen sollten, so wissen Sie, daß wir Fleischbrühe hier haben.«
Sie erkannte Raymonde. Auch in der Grotte waren junge Mädchen angestellt, um Tassen mit Bouillon und Milch an die Kranken auszuteilen.
»Nicht wahr?« wiederholte sie, »Sie geben mir ein Zeichen, und ich werde Sie bedienen.«
Marie dankte; sie sagte, sie werde sicherlich nichts genießen. Dann wandte sie sich wieder zum Priester mit den Worten:
»Eine Stunde, eine Stunde noch, mein Freund!«
Pierre wollte bei ihr bleiben. Aber der Platz mußte Kranken reserviert bleiben. Man duldete nicht einmal die Gegenwart der Träger. Von der beweglichen Flut der Menge fortgerissen, fand sich Pierre gegen die Weiher hin getragen und stieß dort auf ein außerordentliches Schauspiel, das ihn zurückhielt. Vor den Badeplätzen – sechs für die Frauen und drei für die Männer – erstreckte sich unter den Bäumen ein weiter Zwischenraum, den ein dickes, an den Baumstämmen festgeknüpftes Seil abschloß.
Weitere Kostenlose Bücher