Lourdes
Dort warteten in ihren kleinen Wagen oder auf den Matratzen ihrer Tragbahren die Kranken, bis die Reihe zum Baden an sie kam, während auf der anderen Seite des Seils sich ein unermeßliches Getümmel von erhitzten Menschen drängte. Ein in der Mitte des freien Zwischenraumes stehender Kapuziner leitete die Gebete. Die Aves folgten aufeinander, und die Menge wiederholte sie mit lautem, verworrenen Gemurmel. Als Frau Vincent, die seit langem wartete, endlich eintrat, bleich vor Angst und mit der teuren Bürde, ihrem Töchterchen, auf den Armen, das einem wächsernen Jesuskind ähnlich sah, da ließ sich der Kapuziner mit einemmal auf die Knie niederfallen und rief, die Arme in Kreuzesform ausgebreitet: »Herr! Heile unsere Kranken!« Zehnmal, zwanzigmal wiederholte er den Ruf mit wachsendem Ungestüm, und die Menge schrie ihm jedesmal nach, indem sie sich bei jedem Ruf noch mehr erregte, in Schluchzen ausbrach und die Erde küßte. Wie ein Hauch des Wahnsinns wehte es über sie hin und warf alle Stirnen nieder in den Staub. Pierre blieb stehen. Er war völlig verwirrt durch das leidvolle Schluchzen, das aus dem tiefsten Herzensgrunde dieses Volkes emporstieg: anfänglich ein immer lauter werdendes Gebet, worin bald ein anspruchsvolles, dringliches Verlangen, die Stimme der Ungeduld und eines betäubenden, erbitterten Zornes zum Ausbruch kam, wie um den Himmel mit Gewalt zu bestürmen. »Herr! Heile unsere Kranken! Herr! Heile unsere Kranken!«
Es ereignete sich ein Zwischenfall. Die Grivotte weinte heiße Tränen, weil man sie nicht baden wollte.
»Sie sagen«, klagte sie, »sie tun es deshalb nicht, weil ich schwindsüchtig bin und weil sie Schwindsüchtige nicht ins kalte Wasser eintauchen dürfen. Noch diesen Morgen haben sie eine eingetaucht, ich habe es selbst gesehen. Warum also mich nicht auch? Ich rackere mich seit einer halben Stunde ab, und schwöre ihnen, daß sie der Heiligen Jungfrau Herzeleid antun. Denn ich werde geheilt werden; ich fühle es, ich werde genesen.«
Weil sie Lärm zu machen anfing, näherte sich einer der Geistlichen und suchte sie zu beruhigen. Man würde alsbald sehen, man hole eben das Gutachten der ehrwürdigen Patres ein. Benähme sie sich recht vernünftig, so würde man sie vielleicht baden.
»Herr! Heile unsere Kranken! Herr! Heile unsere Kranken!« Pierre bemerkte Frau Vêtu, die gleichfalls wartete. Er konnte die Blicke nicht mehr abwenden von diesem Angesicht, auf dem der Ausdruck einer qualvollen Hoffnung lag, und von den Augen, die auf die Tür geheftet waren, aus der die Glückseligen, die Erwählten geheilt heraustraten. Jetzt verdoppelte sich der Wahnwitz, die flehentlichen Gebete stiegen zur Raserei an und erschütterten den jungen Priester bis zu Tränen. Denn es erschien Frau Vincent wieder, mit ihrem Töchterchen auf den Armen, ihrem unglücklichen, angebeteten Töchterchen, das man soeben ohnmächtig ins eiskalte Wasser eingetaucht hatte. Das arme kleine, noch schlecht abgetrocknete Gesicht mit den geschlossenen Augen war ganz bleich, es sah noch leidensvoller und totenähnlicher aus. Die durch den langen Todeskampf gemarterte und durch die verweigerte Hilfe der für das Leiden ihres Kindes zur Verzweiflung gebrachte Mutter schluchzte. Als darauf Frau Vêtu mit der erregten Hast einer Sterbenden, die das Leben trinken will, in die Grotte eintrat, ertönte gleichwohl ohne Entmutigung und ohne Überdruß aufs neue der allgemeine Ruf: »Herr! Heile unsere Kranken! Herr! Heile unsere Kranken!« Der Kapuziner war mit dem Antlitz auf den Boden gefallen, und das schreiende Volk verzehrte die Erde mit seinen Küssen.
Pierre wollte sich zu Frau Vincent begeben, um ihr ein gutes Wort der Ermutigung zu sagen. Aber eine neue Flut von Pilgern hinderte ihn am Gehen und warf ihn gegen den Brunnen zurück, den ein anderer lärmender Haufen belagerte. Der Brunnen bestand aus einer langen steinernen Mauer mit ausgehauener Kappenverzierung. Trotz der zwölf Hähne, die das Wasser in das enge Bassin ergossen, mußten die Kranken Schlange stehen. Viele füllten dort Flaschen, blecherne Trinkgefäße und Krüge aus Steingut. Wer kein Trinkgefäß anzufüllen hatte, kam wenigstens, um zu trinken und sich das Gesicht zu waschen. Pierre bemerkte einen jungen Mann, der sieben kleine Gläser trank und siebenmal seine Augen wusch, ohne sich abzutrocknen. Andere tranken aus Muschelschalen, aus zinnernen Töpfen und kupfernen Schöpflöffeln. Namentlich wurde er durch den Anblick der Elise
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