Lourdes
Rouquet mit ihrem ungeheuerlichen Gesicht. Sie erzählte, daß sie sich seit dem Morgen mit Leinwandstücken am Brunnen wusch, und es schiene ihr wohl, als ob ihre Wunde eintrockne und blasser werde. Es war wirklich so. Pierre konstatierte sehr überrascht, daß das Aussehen der Wunde weniger schrecklich war. Der Fall gab dem Wortstreit über die offenen Wunden neue Nahrung, denn der kleine blonde Herr blieb starrköpfig bei seiner Idee, einen eigenen Saal dafür einzurichten. In der Tat, wenn man am selben Morgen den Zustand dieses Mädchens festgestellt hätte und es sollte wirklich genesen, welch ein Triumph für die Grotte, einen Lupus geheilt zu haben! Das Wunder würde nicht mehr zu leugnen sein.
Bis dahin hatte sich Doktor Chassaigne unbeweglich und stumm abseits gehalten, als ob er die Tatsachen allein auf Pierre einwirken lassen wollte. Plötzlich neigte er sich vor, um ihm halblaut zu sagen:
»Die offenen Wunden, die offenen Wunden! Dieser Herr läßt sich nicht träumen, daß heutzutage unsere gelehrten Ärzte vermuten, viele von jenen Wunden seien nervösen Ursprungs. Ja, man findet heraus, daß da einfach eine schlechte Ernährung der Haut vorhanden sei. Die Frage der Ernährung ist noch so wenig erforscht! Und man kann schließlich beweisen, daß der Glaube, der Heilungen bewirkt, durchaus imstande ist, Wunden, unter anderen auch gewisse Lupusgeschwüre, zu heilen. Dann frage ich Sie, welche Gewißheit würde jener Herr mit seinem famosen Saal für offene Wunden erhalten! Es gäbe nur noch mehr Verwirrung und ewigen, leidenschaftlichen Hader. Nein, nein! Alle Wissenschaft ist eitel, sie ist ein Meer von Ungewißheit.«
Er lächelte schmerzlich, während Doktor Bonamy Elise Rouquet aufforderte, die Abwaschungen fortzusetzen und jeden Morgen wiederzukommen, um sich untersuchen zu lassen.
Dann wiederholte er mit seiner verständigen und leutseligen Miene:
»Nun ja, meine Herren! Es ist ein Anfang da; das läßt sich nicht bezweifeln.«
Nun aber wurde das Büro gänzlich in Verwirrung gebracht. Wie ein Windstoß und tanzend kam die Grivotte hereingestürzt und schrie mit voller Stimme:
»Ich bin geheilt! Ich bin geheilt!«
Sie erzählte, daß man sie anfangs nicht baden wollte. Sie habe darauf bestehen, flehentlich bitten und schluchzen müssen, bis man sich entschloß, es infolge einer förmlichen Erlaubnis des Paters Fourcade zu tun. Sie hatte es aber schon im voraus gesagt: nicht drei Minuten waren verflossen, seitdem man sie ganz in Schweiß gebadet und mit dem Röcheln einer Schwindsüchtigen im eiskalten Wasser untertauchte, da hatte sie gefühlt, wie ihr die Kräfte wiederkamen wie unter einem schweren Peitschenhieb, der in ihren ganzen Körper einschnitt. Sie wurde von einer Begeisterung, einem Feuer angeregt, so daß sie vor Freude strahlend hin und her trippelte und nicht auf einer Stelle stehenbleiben konnte.
»Ich bin geheilt, meine guten Herren! Ich bin geheilt!«
Pierre betrachtete sie jetzt ganz bestürzt. War denn das jenes Mädchen, das er die letzte Nacht im Zustand des äußersten Verfalls, hustend und blutspeiend, mit erdfahlem Gesicht auf der Bank des Abteils gesehen hatte? Er erkannte sie nicht wieder: sie stand da gerade und hoch aufgerichtet, mit feurigen Wangen und funkelnden Augen, voller Willen zu leben.
»Meine Herren!« erklärte Doktor Bonamy, »der Fall scheint mir sehr interessant. Wir wollen sehen.«
Er verlangte das Aktenheft der Grivotte. Aber man fand es nicht unter dem Papierhaufen auf den zwei Tischen. Die Sekretäre, nämlich die jungen Seminaristen, kehrten das unterste zu oberst. Der Vorstand, der in der Mitte saß, mußte sich erheben und im Bücherschrank nachsehen. Als er endlich seinen Stuhl wieder einnahm, entdeckte er das Aktenheft unter dem Register, das er groß aufgeschlagen vor sich liegen hatte. Es befanden sich sogar drei ärztliche Zeugnisse darin, die er selbst vorlas. Übrigens schlossen alle drei auf eine vorgeschrittene Schwindsucht, die durch Nervenzufälle verwickelt und ganz eigentümlich gestaltet war.
Doktor Bonamy schüttelte den Kopf, als wollte er sagen, eine solche Übereinstimmung lasse keinen Zweifel aufkommen. Dann hörte er die Kranke ab und flüsterte schließlich: »Ich höre nichts. Ich höre nichts.« Doch verbesserte er sich. »Oder beinahe nichts«, sagte er.
Dann wandte er sich zu den fünfundzwanzig bis dreißig Ärzten, die sich schweigend verhielten:
»Meine Herren! Wenn einige von Ihnen mir mit Ihrem Wissen
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