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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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säen.«
    Und doch war er im Recht, dieser Bursche, der die Zähne wies und sich stets bereit zeigte zu beißen, sobald man an seinen Glauben rührte. Pierre betrachtete ihn mit Sympathie. In der Tat war dieses ganze, noch dazu übel eingerichtete Geschäft des Büros der Beurkundungen unnütz, da es die Frommen verletzte und für die Ungläubigen ungenügend war. Läßt sich ein Wunder beweisen? Man muß daran glauben. Es ist zu Ende mit dem Begreifen, sobald Gott einschreitet. In den Jahrhunderten der wahrhaften Gläubigkeit gab sich die Wissenschaft nicht damit ab, Gott zu erklären. Was wollte sie hier? Sie legte dem Glauben Fesseln an und schmälerte ihr eigenes Ansehen. Nein, nein! Entweder werfe man sich nieder, küsse die Erde und glaube, oder aber man gehe weg! Da war kein Kompromiß möglich. Sobald man einmal mit den Untersuchungen begonnen hatte, gab es dafür keine Schranke mehr, und sie führten unvermeidlich zum Zweifel.
    Namentlich litt Pierre unter den außerordentlichen Gesprächen, die er um sich herum hörte. Es waren Gläubige da, die mit Behagen, mit unerhörter Ruhe von den Wundern sprachen. Die erstaunlichsten Tatsachen ließen sie ganz kühl. Noch ein Wunder und wieder eins! Lächelnd erzählten sie sich Wahngebilde, ohne daß ihre Vernunft im geringsten Verwahrung dagegen eingelegt hätte.
    Augenscheinlich lebten sie inmitten eines solchen Fiebers überspannter Einbildungen, daß sie nichts mehr in Erstaunen versetzte. Und es waren durchaus nicht nur einfältige, kindische, ungebildete, von Halluzinationen heimgesuchte Leute wie Raboin, sondern es befanden sich darunter auch verstandeskräftige Männer, gebildete Geister, Gelehrte, Doktor Bonarny und andere. Es war unbegreiflich! Pierre fühlte darum ein zunehmendes Mißbehagen in sich aufsteigen, seine Vernunft wehrte sich wie ein armes Geschöpf, das man ins Wasser geworfen hat und das fühlt, wie die Wellen es von allen Seiten ergreifen und ersticken. Und er dachte, daß ein Umstand, der, wie bei Doktor Chassaigne, zum blinden Glauben umschlug, wohl zuerst dieses Mißbehagen und diesen Kampf überwinden müsse, bevor der endgültige Schiffbruch eintritt.
    Er betrachtete ihn und fand ihn unendlich traurig, vom Schicksal niedergeschmettert, schwach wie ein weinendes Kind und ganz allein auf der Welt. Trotzdem aber konnte er den Schrei des Protestes nicht unterdrücken, der ihm auf die Lippen stieg.
    »Nein, nein! Wenn man auch nicht alles weiß, ja selbst wenn man niemals alles ergründet, so ist das doch kein Grund, daß man zu lernen aufhört. Es wäre schlimm, wenn das Unbekannte durch unsere Schwäche und Unwissenheit uns immer unbekannt bliebe. Unsere ewige Hoffnung soll im Gegenteil die sein, daß die unerklärlichen Tatsachen sich einst erklären werden, und vernünftigerweise sollten wir kein anderes Ideal kennen, als mit Überwindung der Schwächen unseres Körpers und unseres Geistes das Unbekannte zu erforschen, um es erkennen zu lernen und der Vernunft, wenn auch nur schrittweise, zum Siege zu verhelfen. Ach, die Vernunft, durch sie leide ich, von ihr erwarte ich auch meine ganze Stärke! Wenn sie zugrunde geht, wird das ganze Wesen zunichte. Und ich habe nur den brennenden Durst, die Forderungen der Vernunft immer mehr zu befriedigen.«
    Tränen erschienen in den Augen des Doktors Chassaigne. Ohne Zweifel erinnerte er sich soeben seiner teuren Toten. Er flüsterte:
    »Die Vernunft, die Vernunft! Ja, gewiß ist sie ein großes, herrliches Ding, ja sogar die Würde des Lebens. Aber die allmächtige Kraft des Lebens ist die Liebe, das einzige Gut, das man zurückerobern soll, wenn man es verloren hat –«
    Seine Stimme brach in einem erstickten Schluchzen. Er blätterte mechanisch in den Aktenheften auf dem Tische und fand dabei das Aktenstück, das in großen Buchstaben den Namen Mariens von Guersaint trug. Er öffnete es und las die Zeugnisse der zwei Ärzte, die auf eine Lähmung des Rückenmarkes schlossen.
    Dann fuhr er fort:
    »Ja, mein Kind! Sie haben, wie ich weiß, eine lebhafte Zuneigung für Fräulein von Guersaint. Was würden Sie sagen, wenn sie hier geheilt würde? Ich sehe da Zeugnisse, die ehrenwerte Unterschriften aufweisen, und Sie wissen, daß Lähmungen dieser Art fast alle unheilbar sind. Nun gut! Wenn diese junge Person plötzlich laufen und springen würde, wie ich schon so viele andere gesehen habe, wären Sie nicht sehr glücklich? Gäben Sie nicht endlich das Walten einer übernatürlichen Macht

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