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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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begreifen Sie wohl, daß die Leute, die zu den Beratungen hierherkommen, mich zum Lachen bringen, wenn sie im Namen der absoluten Gesetze der Wissenschaft sprechen. Wo sind sie denn, diese Gesetze in der Medizin? Man zeige sie mir!«
    Er wollte nicht weiter darüber reden. Aber seine Leidenschaft riß ihn fort.
    »Ich habe Ihnen gesagt, daß ich gläubig geworden bin. Allein ich verstehe in der Tat sehr wohl, warum dieser brave Doktor Bonamy sich durchaus nicht aufregt, und daß er die Ärzte der ganzen Welt zusammenruft, um seine Wunder zu erforschen. Je mehr Ärzte da sind, desto weniger kommt bei diesem Widerstreit von Diagnosen und Behandlungsmethoden die Wahrheit ans Licht. Wenn man sich nicht einmal über eine sichtbare Wunde einigt, so kann man sich nicht über eine innerliche Verletzung verständigen, die die einen verneinen, während die anderen sie bestätigen. Warum sollte demnach nicht alles zum Wunder werden? Denn genau genommen, ob die Natur wirksam ist oder eine unbekannte Kraft, die Ärzte werden meistens nicht weniger in Erstaunen gesetzt durch den Ausgang der Krankheiten, den sie nur in seltenen Fällen vorhergesehen haben. Ohne Zweifel sind die Dinge hier schlecht organisiert. Diese Zeugnisse von Ärzten, die man nicht kennt, haben keinen ernsthaften Wert. Es bedürfte einer sehr strengen Kontrolle der Dokumente. Aber selbst eine absolute wissenschaftliche Strenge vorausgesetzt, wären Sie doch sehr naiv, mein liebes Kind, wenn Sie glaubten, daß sich eine offenbare Überzeugung für alle ergäbe. Der Irrtum liegt einmal im Menschen, und es gibt kein heldenmäßigeres Werk, als auch nur die kleinste Wahrheit festzustellen.«
    Da ging Pierre das Verständnis auf für das, was in Lourdes vorging: für das außerordentliche Schauspiel, dem die Welt seit Jahren beiwohnte unter der frommen Anbetung der einen und dem beschimpfenden Gespött der anderen. Gewiß waren noch wenig erforschte, selbst ganz unbekannte Kräfte tätig, wie Autosuggestion, von langer Hand vorbereitete Erschütterung, die hinreißende Gewalt der Reise, der Gebete und Gesänge, die zunehmende Aufregung und vor allem der die Heilung bewirkende Odem, die unbekannte Triebkraft, die in der heftigen Krise des Glaubens von den Volksmassen ausströmte. Darum schien es ihm nunmehr wenig verständig, an Betrug zu glauben. Die Tatsachen lagen viel höher und zugleich viel einfacher. Die Patres der Grotte brauchten nicht zu Lügen zu greifen. Es genügte ihnen, zur Verwirrung mitzuhelfen und die allgemeine Unwissenheit auszunützen. Man durfte sogar annehmen, daß alle im guten Glauben waren: die Ärzte ohne Genie, die die Zeugnisse ausstellten, die getrösteten Kranken, die sich geheilt glaubten, und die leidenschaftlichen Zuschauer, die schwören, es gesehen zu haben ... Und aus alldem ergab sich die offenbare Unmöglichkeit, zu beweisen, daß ein Wunder vorliege oder nicht. Wurde es nicht schon dadurch für die meisten, für alle, die litten und der Hoffnung bedurften, zur Wirklichkeit?
    Doktor Bonamy, der sie abseits plaudern sah, hatte sich ihnen genähert. Da wagte es Pierre, ihn zu fragen:
    »In welchem Verhältnis ungefähr vollziehen sich die Heilungen?«
    »Es kommen beiläufig zehn Heilungen auf hundert Kranke«, antwortete er.
    Und weil er in den Augen des jungen Priesters las, was dieser nicht sagen konnte, so fügte er mit vollkommener Gutmütigkeit bei:
    »Oh, wir würden deren mehr erzielen, alle wären geheilt, wenn wir auf sie hören wollten. Aber es muß wohl gesagt werden: ich bin hier, um die Wunder ein wenig unter Polizeiaufsicht zu halten. Mein ganzes Amt besteht darin, den allzu großen Eifer zu hemmen und zu verhüten, daß die heiligen Dinge ins Lächerliche gezogen werden. Kurz, mein Büro ist nur eine Beglaubigungsstelle für Heilfälle, die in der Tat ernst erscheinen.«
    Aber er wurde durch dumpfes Gemurmel unterbrochen. Es war Raboin, der sich ärgerte.
    »Heilfälle, die ernst erscheinen!« knurrte er. »Wozu ist deren Feststellung und Beglaubigung gut? Das Wunder vollzieht sich ununterbrochen. Wozu dasselbe für die Gläubigen amtlich feststellen? Sie haben sich nur zu beugen und zu glauben. Und für die Ungläubigen? Was nützt es diesen wiederum? Man wird sie doch niemals überzeugen. Dummheiten machen wir hier!«
    Doktor Bonamy befahl ihm streng, zu schweigen.
    »Raboin!« sagte er, »Sie sind ein Rebell. Ich werde dem Pater Capdebarthe sagen, daß ich nichts mehr von Ihnen wissen will, weil Sie Ungehorsam

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