Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
Vom Netzwerk:
Hilfe leisten wollen ... Wir sind hier, um zu studieren und zu untersuchen.«
    Zuerst rührte sich niemand von der Stelle. Hernach wagte es einer, sich darauf einzulassen. Er hörte das junge Mädchen ab, aber er sprach sich nicht aus, dachte nach und schüttelte zweifelhaft den Kopf. Endlich stotterte er, ihm schiene, man müsse die Sache abwarten. Aber sofort nahm ein anderer seinen Platz ein, und dieser sprach sich ganz bestimmt aus: er hört durchaus nichts, niemals sei diese Frau schwindsüchtig gewesen. Noch andere folgten ihm, endlich waren alle an der Reihe gewesen mit Ausnahme von fünf oder sechs, die unter feinem Lächeln eine feste Haltung bewahrten. Die Verwirrung war auf einer ihrer höchsten Stufen angelangt, denn jeder gab seine merklich abweichende Meinung kund, derart, daß man in dem lärmenden Durcheinander der Stimmen sich selber nicht mehr sprechen hörte. Nur der Pater Dargelès zeigte die Ruhe vollständiger Unbefangenheit, denn er hatte einen jener Fälle aufgespürt, die die Leidenschaften erwecken und den Ruhm unserer lieben Frau von Lourdes bilden. An einer Ecke des Tisches machte er bereits seine Notizen.
    Dank dem lauten Stimmengewirr konnten Pierre und Doktor Chassaigne abseits plaudern, ohne daß: man sie hörte.
    »Oh, diese Weiher, die ich soeben gesehen habe«, sagte der junge Priester, »diese Weiher, deren Wasser man so selten erneuert! Welcher Unrat, welche Mikrobenbrühe! Ach, die Sucht und die Begeisterung für antiseptische Vorsichtsmaßregeln, der wir verfallen sind, erhält da eine gewaltige Ohrfeige. Wie kommt es nur, daß nicht eine und dieselbe Pest alle diese Kranken hinwegrafft? Die Gegner der Theorie von den Bazillen können lachen!«
    Der Doktor tat ihm Einhalt.
    »Aber nein, mein Sohn! Wenn die Bäder auch nicht reinlich sind, so bringen sie doch keinen Schaden. Bedenken Sie, daß das Wasser nicht über zehn Grad steigt, und um Bazillen zu züchten, bedarf es deren fünfundzwanzig. Dann kommen durchaus keine ansteckenden Krankheiten nach Lourdes, weder Cholera noch Typhus, weder schwarze Blattern noch Masern und Scharlach. Wir sehen nur gewisse organische Krankheiten, wie Lähmungen, Skrofeln, Krebsgeschwülste, die Eitergeschwüre und Abszesse, Krebs und Schwindsucht, und diese ist durch das Wasser der Bäder nicht übertragbar. Die alten Wunden, die man darin anfeuchtet, bieten keine Gefahr der Ansteckung. Ich versichere Sie, daß in dieser Hinsicht selbst die Heilige Jungfrau nicht einzuschreiten braucht.«
    »Nun, Doktor, hätten Sie vormals, als Sie noch praktizierten, alle Ihre Kranken im eiskalten Wasser baden lassen? Die Frauen, gleichviel zu welcher Zeit des Monats, die Rheumatiker, die Herzleidenden, die Schwindsüchtigen? Dieses unglückliche, halbtote, von Schweiß überströmte Mädchen hätten Sie baden lassen?«
    »Sicherlich nicht! Es gibt stark wirkende Mittel, die man nicht ohne weiteres anzuwenden wagt. Gewiß kann ein eiskaltes Bad einen Schwindsüchtigen töten, aber wissen wir denn, ob es ihn unter bestimmten Umständen nicht retten kann? Ich habe zugegeben, daß eine übernatürliche Kraft hier waltet, und ich räume sehr gern ein, daß Heilungen sich auf natürliche Weise vollziehen müssen, dank dieser Eintauchung ins kalte Wasser, die uns so töricht und barbarisch erscheint. Ach, wieviel ist uns noch unbekannt ...«
    Er verfiel wieder in seinen Zorn, in seinen Haß gegen die Wissenschaft, die er verachtete, seitdem sie ihn in seiner Ohnmacht beim Todeskampf seiner Frau und seiner Tochter im Stiche gelassen hatte.
    Dann fuhr er fort:
    »Sie verlangen Zuverlässigkeit, die medizinische Wissenschaft wird sie Ihnen gewiß nicht bieten. Hören Sie einen Augenblick diesen Herren zu, und seien Sie erbaut davon! Ist sie nicht schön, diese vollständige Verwirrung, in der alle Ansichten sich widerstreiten? Gewiß, es gibt Krankheiten, die man vortrefflich kennt, bis in die kleinsten Phasen ihrer Entwicklung, es gibt Mittel, deren Wirkung man mit der gewissenhaftesten Sorgfalt erforscht hat. Was man aber nicht weiß und nicht wissen kann, das ist die Beziehung, in der das Mittel zur Krankheit steht, denn jeder Kranke ist ein besonderer Fall, und bei jedem muß eben wieder ein Versuch gemacht werden. Das ist der Grund, weshalb die Arzneiwissenschaft eine Kunst bleibt: sie kann keine auf Erfahrung gegründete strenge Regel besitzen. Stets hängt die Heilung vom Zufall, von einem glücklichen Umstand, vom findigen Geist des Arztes ab. Und dann

Weitere Kostenlose Bücher