Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
Vom Netzwerk:
sie nicht soeben versucht, einen Menschen von den Toten zu erwecken? Man hat mir so 'was erzählt, und ich wäre fast daran erstickt. He, Doktor! Begreifen Sie? Einen Menschen, der das Glück hatte, tot zu sein, und den sie sich erlaubten, in ihrem Wasser einzuweichen in der verbrecherischen Hoffnung, ihn wieder zum Leben zu bringen? Wenn es ihnen nun geglückt wäre, wenn ihr Wasser – man weiß ja nie, was in dieser possierlichen Welt vorkommen kann – diesen Unglücklichen wiederbelebt hätte, glauben Sie, der Mann hätte nicht das Recht gehabt, ihnen seinen Zorn ins Angesicht zu speien? Hatte der Tote sie gebeten, ihn wieder zu erwecken? Wußten sie denn, ob er nicht froh war, gestorben zu sein? Man befragt doch wenigstens die Leute. Wenn sie dieses unflätige Possenspiel mit mir aufführen wollten, mit mir, wenn ich endlich den guten, langen Schlaf schlafe, haha, ich würde sie hübsch empfangen! ›Mischt euch doch nicht in Dinge, die euch nichts angehen!‹ würde ich ihnen sagen und hätte nichts Eiligeres zu tun, als wieder zu sterben!«
    Er war so eigentümlich in seiner zornigen Aufwallung, daß der Abbé Judaine und der Doktor sich eines Lächelns nicht enthalten konnten. Pierre aber blieb ernst. Hatte er nicht soeben die verzweifelten Verwünschungen des Lazarus vernommen? Oft hatte er sich eingebildet, daß der aus dem Grabe auferstandene Lazarus Jesu zuschrie: »Oh, Herr! Warum hast du mich wieder erweckt zu diesem abscheulichen Leben? Ich schlief so süß den ewigen Schlaf ohne Traum, ich kostete endlich eine süße Ruhe in der Wonne des Nichts! Alle Armseligkeiten und Schmerzen, alle Tücke und falschen Hoffnungen, Gebrechen und Krankheiten hatte ich kennengelernt. Ich hatte dem Leiden die furchtbare Schuld eines Lebenden bezahlt, denn ich war zur Welt gekommen, ohne zu wissen, warum, und ich hatte gelebt, ohne zu wissen, wie! Und nun, o Herr, läßt du mich doppelt bezahlen, du verurteilst mich, meine Strafzeit von vorne zu beginnen! Habe ich denn irgendeinen unsühnbaren Fehltritt begangen, da du ihn mit einer so grausamen Züchtigung bestrafst? Wiederum leben, ach! Jeden Tag ein wenig von seinem Fleisch absterben zu fühlen, den Verstand zu besitzen nur, um zu zweifeln, den Willen nur, um nichts zu vermögen, ein zartes Gemüt nur, um seine Qualen zu beweinen! Und das alles war zu Ende. Ich hatte ihn getan, den erschreckenden Schritt zum Tode, ich hatte sie hinter mir, die Sekunde, die so furchtbar ist, daß sie das ganze Dasein vergiftet. Und ich hatte auch gefühlt, wie der Todesschweiß mich benetzte, wie das Blut sich aus meinen Gliedern zurückzog und der Atem in einem letzten Seufzer entwich. Du willst also, daß ich diese Pein zweimal kennenlerne: ich werde zweimal sterben müssen, und mein irdisches Elend soll jenes aller anderen Menschen überragen? Ach, Herr! Dann mag es sogleich geschehen! Ja, ich beschwöre dich darum, wirke dies andere große Wunder, daß ich mich aufs neue in das Grab lege, und daß ich, ohne zu leiden, wieder hinüberschlummere in meinen unterbrochenen ewigen Schlaf. Lege mir gnädigst nicht die Marter eines nochmaligen Lebens auf, diese so entsetzliche Marter, zu der du kein Wesen je verdammt hast. Ich habe dich stets geliebt und dir gedient, mache mich nun nicht zum Beispiel deines höchsten Zornes, vor dem alle Geschlechter in Schrecken geraten würden. Sei gütig und mild, o Herr! Gib mir den Schlaf wieder, den ich wohlverdient habe, schläfere mich aufs neue ein in die Wonnen deines Nichts!«
    Inzwischen hatte der Abbé Judaine den Hauptmann, den er endlich beruhigte, hinweggeführt, und Pierre drückte dem Doktor Chassaigne die Hand, da er sich erinnerte, daß es schon über fünf Uhr war und daß Marie auf ihn warten mußte. Als er endlich zur Grotte zurückkehrte, kam es zu einer neuen Begegnung: er traf den Abbé des Hermoises im eifrigen Gespräch mit Herrn von Guersaint, der eben erst, durch einen guten Schlaf ermuntert, sein Gasthofzimmer verlassen hatte. Beide bewunderten die außerordentliche Schönheit, die die Begeisterung des Glaubens gewissen Frauenantlitzen verlieh. Auch plauderten sie über ihren Plan, einen Ausflug nach dem Tal von Gavarnie zu machen.
    Übrigens begleitete Herr von Guersaint den jungen Priester, sobald er erfuhr, daß Marie ein erstes Bad ohne Erfolg genommen hatte. Sie trafen das junge Mädchen noch in der gleichen schmerzhaften Betäubung, die Blicke stets auf die Heilige Jungfrau geheftet, die sie nicht erhört hatte. Sie

Weitere Kostenlose Bücher