Lourdes
Jungfrau einen Ball gegeben hätte.
»Ich bin geheilt, ja, geheilt! Ganz und gar geheilt!«
Darauf konnte Frau Vêtu, in kindlicher Heiterkeit und mit vollkommener Selbstverleugnung, wieder sagen:
»Die Heilige Jungfrau hat recht getan, dieses Geschöpf da zu heilen, weil sie arm ist. Das macht mir mehr Vergnügen, als wenn ich es wäre. Denn ich habe noch meinen kleinen Uhrenladen und kann warten. Es kommt jeder an die Reihe.«
Alle zeigten eine solche Freude, ein unglaubliches Glück über die Heilung anderer. Selten waren sie eifersüchtig, sie überließen sich einer Art seliger Epidemie, der ansteckenden Hoffnung, selbst gesund zu werden, wenn die Heilige Jungfrau es wollte. Man mußte sie nur nicht ungehalten machen und sich nicht allzu ungeduldig zeigen. Denn gewiß hatte sie ihre Gründe und wußte, warum sie mit der Heilung der einen früher begann als mit der der anderen. Darum beteten auch in dieser brüderlichen Gemeinschaft des Leidens und der Hoffnung die am schwersten betroffenen Kranken für ihre Nachbarinnen. Keine verzweifelte jemals, jedes neue Wunder war eine Bürgschaft für das nächste. Ihr Glaube blieb unerschütterlich. Man erzählte die Geschichte einer gelähmten Pächterstochter, die mit außerordentlicher Willenskraft in der Grotte einige Schritte gemacht hatte. Ins Hospital zurückgekehrt, verlangte sie dann, man sollte sie wieder hinab und nach der Grotte führen. Aber auf halbem Wege war sie getaumelt und ganz weiß geworden. Nachdem man sie auf einer Tragbahre zurückgebracht hatte, war sie gestorben, geheilt, sagten ihre Saalnachbarinnen. Jede kommt an die Reihe, die Heilige Jungfrau vergißt keine ihrer geliebten Töchter, wofern sie nicht die Absicht hat, einer ihrer Auserwählten auf der Stelle die Gnade des Paradieses zu gewähren.
Im Augenblick, da Pierre sich zu Marie hinneigte, brach diese plötzlich in wildes Schluchzen aus. Sie hatte ihren Kopf auf die Schulter des Freundes gelegt und erzählte ihm mit leiser, schrecklicher Stimme inmitten der verschwommenen Schatten dieses entsetzlichen Saales von ihrer innerlichen Empörung. Bei ihr vollzog sich, wie dies nur selten vorkam, ein Untergang des Glaubens, ein jäher Mangel an Mut, sie zeigte die ganze Wut des leidenden Geschöpfes, das nicht mehr warten konnte. Sie ging bis zur Lästerung.
»Nein, nein!« stieß sie leise hervor, »sie ist böse, sie ist ungerecht, weil sie mich nicht gleich geheilt hat. Ich war so gewiß, daß sie mich heute erhören würde, und hatte so sehr darum gefleht! Ich werde niemals geheilt werden, da dieser erste Tag jetzt zu Ende geht. Es war heute Samstag, und ich war überzeugt, daß sie mich an einem Samstag heilen würde. Ich wollte nicht mehr sprechen, verhindern Sie mich am Sprechen, denn mein Herz ist übervoll, und ich würde zuviel darüber reden.«
Er hatte ihren Kopf in brüderlicher Umarmung lebhaft an sich gedrückt und machte den Versuch, den Schrei ihrer Empörung zu ersticken.
»Marie«, flüsterte er, »schweigen Sie, ich bitte Sie! Man darf Sie nicht hören ... Sie sind doch sonst so gottesfürchtig! Wollen Sie denn allen diesen Seelen Ärgernis geben?«
Aber trotz seiner Bemühungen konnte sie nicht schweigen.
»Ich würde ersticken, ich muß reden ... Ich liebe sie nicht mehr, ich glaube nicht mehr an sie. Lüge ist alles, was man hier erzählt. Es ist alles nur Wahn, und sie existiert nicht einmal, da sie nicht hört, wenn man zu ihr spricht und wenn man weint. Wenn Sie alles wüßten, was ich zu ihr gesagt habe! Ich will augenblicklich von hier fortgehen. Bringen Sie mich weg! Tragen Sie mich auf der Stelle in Ihren Armen davon, damit ich auf der Straße sterbe, wo wenigstens die Vorübergehenden mit meinem Leiden Mitleid haben werden.«
Sie wurde schwächer und sank auf den Rücken zurück, dann stammelte sie wie ein Kind:
»Und dann liebt mich auch niemand. Selbst mein Vater war nicht da. Auch Sie, mein armer Freund, haben mich aufgegeben. Als ich sah, daß ein anderer mich zum Weiher brachte, da fühlte ich, wie mich Kälte zu erfassen begann. Ja, eine Kälte des Zweifels, die ich oft in Paris empfand. Soviel ist sicher: wenn sie mich nicht geheilt hat, so geschah es, weil ich zweifelte. Ich werde schlecht gebetet haben und bin nicht gottgefällig genug ...«
Sie lästerte schon nicht mehr, sie fand Entschuldigung für den Himmel. Aber ihr Angesicht blieb heftig erregt in diesem Streit gegen die höhere Gewalt, die sie so sehr geliebt und so inständig
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