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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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antwortete nicht auf die zärtlichen Worte, die ihr Vater an sie richtete. Sie betrachtete ihn nur mit ihren großen, tieftraurigen Augen und wandte sie dann wieder der vom Strahlenkranz der Kerzen umgebenen weißen Marmorstatue zu. Und während Pierre wartete, um sie nach dem Hospital zurückzuführen, war Herr von Guersaint andächtig niedergekniet. Zuerst betete er inbrünstig um die Genesung seiner Tochter. Hernach bat er für sich selbst: er verlangte die Gnade, einen Teilhaber zu finden, der ihm die Million gäbe, die er zu seinen Studien über die Lenkbarkeit der Luftschiffe notwendig hatte.

V
    Gegen elf Uhr abends kam Pierre, der Herrn von Guersaint in seinem Zimmer im Hotel des Apparitions zurückließ, auf den Gedanken, einen Augenblick nach dem Hospital Notre-Dame des Douleurs zurückzukehren, ehe er sich selbst schlafen legte. Er hatte Marie so hoffnungslos, so stumm und in scheues Schweigen versunken, verlassen, daß er voll Unruhe war. Nachdem er Frau von Jonquière an die Tür des Saales Sainte-Honorine hatte rufen lassen, kam noch mehr Sorge über ihn, denn die Nachrichten lauteten nicht gut. Die Vorsteherin teilte ihm mit, das junge Mädchen habe die Lippen noch immer nicht geöffnet, gebe niemandem eine Antwort und weigere sich sogar zu essen. Sie wünschte ebenfalls dringend, daß Pierre eintreten möchte. Die Frauensäle waren zwar den Männern bei Nachtzeit verboten, aber ein Priester ist ja kein Mann.
    »Sie liebt nur Sie«, sagte die Vorsteherin; »sie wird nur auf Sie hören. Ich bitte Sie darum, treten Sie ein und setzen Sie sich an ihr Bett. Erwarten Sie den Abbé Judaine, der gegen ein Uhr morgens kommen muß, um den Kränksten, die sich nicht von der Stelle rühren können und die essen, sobald es Tag wird, die Kommunion zu reichen, Sie können ihm behilflich sein.«
    Pierre begleitete hierauf Frau von Jonquière, die ihn zu Häupten Mariens niedersetzen ließ.
    »Liebes Kind!« sagte sie, »ich bringe Ihnen jemand, der Sie sehr liebhat. Nicht wahr, Sie werden plaudern und vernünftig sein?«
    Aber als die Kranke Pierre erkannte, betrachtete sie ihn mit einer Miene verbitterten Leids, ihr Antlitz war düster und hart vor seelischer Empörung.
    »Wollen Sie, daß er Ihnen etwas vorliest? Wünschen Sie eine jener schönen, tröstenden Vorlesungen, wie er uns eine im Eisenbahnwagen hielt? Nein, das würde Sie nicht unterhalten, Sie haben keine Freude daran. Nun gut! Wir werden später sehen. Ich lasse Sie allein mit ihm und bin überzeugt, daß Sie sofort sehr brav sein werden.«
    Vergeblich sprach Pierre zu ihr und sagte ihr alles, was seine Zärtlichkeit Gutes und Schmeichelhaftes fand, indem er sie anflehte, nicht derart in Verzweiflung zu versinken. Wenn die Heilige Jungfrau sie nicht den ersten Tag geheilt hatte, so geschähe es wohl nur deshalb, weil sie sie für irgendein glänzendes Wunder vorbehielte. Sie hatte aber den Kopf abgewandt, sie schien ihn nicht einmal mehr zu hören. Ihr Mund zeigte einen bitteren Zug, ihre erzürnten Augen verloren sich ins Leere. Er mußte schweigen und betrachtete den Saal rings um sich.
    Dieser Saal bot ein abscheuliches Schauspiel. Noch niemals war ihm so schlimm zumute gewesen wie bei dieser von Erbarmen und Schrecken hervorgerufenen Übelkeit. Man hatte seit langem zu Nacht gegessen, aber die aus der Küche heraufgetragenen Portionen lagen trotzdem noch auf den Betten herum. Es gab Kranke, die die ganze Nacht hindurch aßen, während andere ohne Ruhe wimmerten und inständig baten, man möchte sie umdrehen oder auf das Nachtgeschirr setzen. In dem Maße, wie die Nacht vorschritt, überfiel alle eine Art unbestimmten Deliriums. Sehr wenige schliefen ruhig. Einige lagen entkleidet unter den Decken, die größte Zahl einfach darauf ausgestreckt, da sie so schwer zu entkleiden waren, daß sie während der fünf Tage der Pilgerfahrt nicht einmal die Wäsche wechselten. Die Überfüllung des Saales schien in dem Halbdunkel noch schlimmer: man unterschied die fünfzehn längs der Wände in Reihen aufgestellten Betten, die sieben Matratzen, die den mittleren Gang verstopften und zu denen man noch einige andere hinzugefügt hatte, dann eine Anhäufung von zahllosen Lumpen, unter denen die Gepäckstücke, die alten Körbe, Kisten und Reisesäcke herumlagen. Man wußte nicht mehr, wohin man den Fuß setzen sollte. Zwei rauchende Laternen erhellten nur spärlich dieses Feldlager von todkranken Frauen. Der Geruch war entsetzlich trotz der zwei halb offenen

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