Lourdes
angefleht und die ihr den Willen nicht getan hatte. Wenn manchmal ein Wutanfall ausbrach und es dabei in den Betten zu einer Auflehnung, zu Ausbrüchen von Verzweiflung, zu heftigem Schluchzen, ja sogar zu Flüchen kam, so begnügten sich die erschrockenen Schwestern damit, die Vorhänge zuzumachen. Die Gnade hatte sich zurückgezogen, man mußte warten, bis sie wiederkam. Dann trat eine allmähliche Beruhigung ein, und nach Stunden war alles in tiefem, traurigen Schweigen erstorben.
Als Pierre sah, daß Marie von einer andern Krise, dem Zweifel an sich selbst und der Befürchtung, der Gnade unwürdig zu sein, ergriffen wurde, wiederholte er sehr liebevoll:
»Beruhigen Sie sich! Beruhigen Sie sich, ich bitte Sie darum.«
Schwester Hyacinthe hatte sich wieder genähert.
»Mein liebes Kind«, sagte sie, »Sie werden nachher nicht die Kommunion empfangen können, wenn Sie in solchem Zustande sind ... Da wir den Herrn Abbé ermächtigen, Ihnen etwas vorzulesen, warum nehmen Sie es nicht an?«
Sie machte eine müde Gebärde, um ihre Einwilligung auszudrücken, und Pierre beeilte sich, aus der Reisetasche zu Füßen des Bettes das kleine Buch mit blauer Decke zu nehmen, worin die Geschichte der Bernadette in naiver Weise erzählt war. Aber wie in der vorigen Nacht in dem dahin rollenden Zug hielt er sich nicht an den abgekürzten Text der Broschüre. Er improvisierte und gab die Tatsachen in seiner Weise wieder, um die einfachen Frauen, die ihm zuhörten, zu ergötzen. Aber der Denker in ihm konnte sich nicht enthalten, ganz leise die Wahrheit wiederherzustellen, und arbeitete für ihn allein diese Legende, deren fortwährendes Wunder die Heilung der Kranken unterstützte, zu einer menschlichen Geschichte um. Binnen kurzem richteten sich Frauen in allen benachbarten Betten auf. Sie wollten die Fortsetzung der Geschichte kennenlernen, denn die leidenschaftliche Erwartung der Kommunion hinderte sie fast alle am Schlaf. Pierre saß im blassen Schein der an der Wand aufgehängten Laterne. Um vom ganzen Saal gehört zu werden, erhob er nach und nach seine Stimme. Er sprach:
»Gleich nach den ersten Wundern nahmen die Verfolgungen ihren Anfang. Bernadette wurde wie eine Lügnerin und Närrin behandelt, man drohte ihr, sie würde ins Gefängnis geworfen werden. Der Abbé Peyramale, Kurat von Lourdes, und Monsignore Laurence, Bischof von Tarbes und der ganze Klerus hielten sich abseits und warteten mit größter Vorsicht die Dinge ab, während die Zivilbehörden, der Präfekt, der Staatsanwalt, der Bürgermeister, der Polizeikommissar sich in ihrem Eifer beklagenswerten Ausschreitungen gegen die Religion überließen –«
Während Pierre fortfuhr, sah er, wie sich die wahre Geschichte mit unbezwinglicher Gewalt vor ihm erhob. Er kam ein wenig auf schon Erzähltes zurück und fand Bernadette im Augenblick der ersten Erscheinungen wieder. Sie war ohne Falsch, reizend in ihrer Unwissenheit, ihrem guten Glauben, und ihrem Leiden. Und sie war die Seherin, die Heilige, deren Antlitz während der ekstatischen Krise den Ausdruck einer überirdischen Schönheit annahm: die Stirn strahlte, die Züge schienen sich aufzufrischen, die Augen schwammen im Licht, während der halb geöffnete Mund vor Liebe brannte. Ihre ganze Person war voller Majestät, sie machte hoheitsvolle, ganz langsame Zeichen des Kreuzes, die den Eindruck hervorriefen, als sollten sie den Horizont umfassen. Die benachbarten Täler, die Dörfer und Städte sprachen nur von Bernadette. Obwohl die Jungfrau sich noch nicht genannt hatte, erkannte man sie. Man sagte: »Sie ist es, die Heilige Jungfrau ist es.« Am ersten Markttage waren so viel Leute da, daß Lourdes gleichsam überfloß. Alle wollten das gebenedeite Mädchen sehen, die Auserwählte der Königin der Engel, die so schön wurde, wenn sich ihren verzückten Augen die Himmel auftaten. Jeden Morgen wurde die Menge am Ufer des Gave zahlreicher, und endlich kamen Tausende von Personen, um sich dort niederzulassen. Sie stießen einander herum, um nichts von dem Schauspiel zu verlieren. Sobald Bernadette erschien, lief ein Murmeln der Inbrunst durch die Menge: »Hier ist sie, die Heilige, die Heilige, die Heilige!« Man stürzte sich auf sie, um ihre Gewänder zu küssen. Sie war der Messias, der ewige Messias, den die Völker erwarten und nach dem sie sich über alle Generationen hinweg stets von neuem sehnen. Es war immer das gleiche Ereignis: die Jungfrau erschien einer Hirtin, eine Stimme ermahnte die Welt
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