Lourdes
irdische Heilige, für ein einfaches, gerades und in der Qual seines Glaubens noch reizendes Geschöpf fühlt, bewahrte – Pierre konnte seine Bewegung nicht verbergen: seine Augen waren feucht, seine Stimme zitterte. Da wurde er unterbrochen. Marie, die bisher mit einem vor Empörung hart gewordenen Angesicht starr dalag, löste ihre verschlungenen Hände und machte eine unbestimmte Gebärde des Mitleids.
»Ach!« flüsterte sie, »die arme Kleine stand so allein diesen Beamten gegenüber und war so unschuldig, so kühn und unwandelbar in der Wahrheit!«
Von allen Betten stieg das gleiche leidende Mitgefühl auf. Die Hölle dieses Saals in seiner nächtlichen Pein, mit der verpesteten Luft, den aneinander gedrängten Schmerzenslagern und mit dem gespenstischen Hinundhergehen der von Müdigkeit zerschlagenen Damen und Nonnen, schien von einem Glanz göttlicher Liebe erhellt zu werden. War das nicht das ewige Gaukelbild vom Glück, das sich hier in den Tränen und selbst in der unbewußten Lüge aussprach? Arme, arme Bernadette! Alle entrüsteten sich über die Verfolgungen, die sie um der Verteidigung ihres Glaubens willen erduldet hatte.
Hierauf fuhr Pierre in seiner Geschichte fort und erzählte, was das Kind alles auszustehen hatte. Nach dem Verhör des Kommissars mußte sie noch vor Gericht erscheinen. Das gesamte Gericht war darauf versessen, einen Widerruf von ihr zu erpressen. Aber das starrsinnige Festhalten an ihrem Traum erwies sich stärker als die Vernunftgründe der vereinigten Behörden. Zwei vom Präfekten zu einer aufmerksamen Untersuchung der Kranken bestellte Doktoren schlossen ehrlich, wie dies jeder Arzt getan hätte, auf nervöse Störungen. Das Asthma war ein sicheres Merkmal dafür, und unter gewissen Umständen konnten sie den Ausschlag zur Erweckung von Visionen gegeben haben. Daraufhin mußte man sie fortbringen und in einem Krankenhaus zu Tarbes internieren. Man fürchtete die Erbitterung des Volks. Ein Bischof war gekommen, um sich vor ihr auf die Knie zu werfen. Damen wollten Gnaden von ihr erflehen und sie mit Gold aufwiegen. Stets wachsende Ströme von Gläubigen erdrückten sie mit Besuchen. Sie hatte sich zu den Schwestern von Nevers geflüchtet, die die Krankenpflege im Hospiz der Stadt versehen. Mit Mühe lernte sie dort lesen und schreiben. Da die Heilige Jungfrau sie nur für das Glück anderer auserwählt zu haben schien und weil sie Bernadette selber gar nicht von ihren chronischen Erstickungsanfällen heilte, so entschloß man sich, sie nach den ohnehin nahen Bädern von Cauterets zu bringen, die ihr übrigens nicht gut taten. Und gleich bei ihrer Rückkehr nach Lourdes begann die Marter der gerichtlichen Verhöre und der Verehrung eines ganzen Volks aufs neue. Die Qual wurde noch ärger und flößte ihr immer mehr Abscheu vor der Welt ein. Sie durfte kein fröhliches Kind sein, kein junges Mädchen werden, das von einem Gatten träumt, keine junge Frau, die Küsse auf die Wangen praller Kinder drückt. Sie hatte die Jungfrau geschaut: sie war die Auserwählte und die Märtyrerin. Die Jungfrau, sagten die Gläubigen, hatte ihr drei Geheimnisse anvertraut und sie so mit dreifacher Rüstung bewehrt, um sie aufrechtzuerhalten.
Lange hatte sich der Klerus, der selber voller Zweifel und Unruhe war, enthalten, eine Ansicht auszusprechen. Der Abbé Peyramale, Kurat von Lourdes, war ein rauher Mann, aber von unendlicher Güte und von bewunderungswürdiger Geradheit und Energie, wenn er sich auf dem rechten Weg glaubte. Als er das erstemal den Besuch Bernadettes empfing, trat er diesem in Bartrès erzogenen Kinde fast ebenso rauh entgegen wie der Polizeikommissar. Er weigerte sich, an seine Geschichte zu glauben, und befahl ihm mit einiger Ironie, die Dame zu bitten, sie solle vor allem den wilden Rosenstock, der sich zu ihren Füßen befand, zum Blühen bringen, was die Dame übrigens nicht tat. Wenn er später als guter Hirt, der seine Herde verteidigt, das Kind unter seinen Schutz nahm, so geschah dies, weil man davon sprach, dieses kränklich aussehende Mädchen mit den hellen, freimütigen Augen und der Geschichte, die sie sich in ihrer bescheidenen Sanftmut in den Kopf gesetzt hatte, ins Gefängnis zu werfen. Warum hätte er fortfahren sollen, das Wunder in Abrede zu stellen, nachdem er als kluger Pfarrer, der wenig Lust zeigte, die Religion mit einem zweideutigen Abenteuer in Berührung zu bringen, einfach daran gezweifelt hatte? Die heiligen Bücher sind voll von Wundern.
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