Lourdes
Das ganze Dogma ist auf ein Mysterium gegründet. Sonach widersetzte sich in den Augen eines Priesters nichts mehr der Annahme, daß die Heilige Jungfrau dieses fromme Kind mit einer Botschaft an ihn beauftragt habe, indem sie ihm sagen ließ, er solle eine Kirche bauen, zu der sich die Gläubigen in Prozession begeben könnten. Und so geschah es, daß er dazu kam, Bernadette wegen ihrer bezaubernden Anmut zu lieben und zu verteidigen, wenn er sich auch sonst abseits hielt, um die Entscheidung seines Bischofs abzuwarten.
Dieser Bischof, Monsignore Laurence, schien sich in der Tiefe seines Palastes zu Tarbes hinter dreifachen Riegeln eingesperrt zu haben. Er bewahrte das tiefste Stillschweigen, als ob in Lourdes nichts vorginge, was geeignet wäre, seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Er hatte seinem Klerus strenge Befehle gegeben, und nicht ein Priester hatte sich unter den großen Volksmassen blicken lassen, die ganze Tage vor der Grotte verbrachten. Er wartete, er ließ den Präfekten in Rundschreiben benachrichtigen, daß die bürgerliche Gewalt mit der religiösen Obrigkeit einig ginge. Im Grunde brauchte er nicht an die Erscheinungen in der Grotte von Massabielle zu glauben, zweifellos sah er darin nur die Halluzination eines kranken Mädchens. Das Ereignis, das das Land in Aufregung brachte, war von hinreichend großer Wichtigkeit, daß er es sorgfältig von Tag zu Tag erforschen ließ, und die Art, auf die er ihm so lange sein Interesse vorenthielt, beweist, wie wenig er das behauptete Wunder gelten ließ. Er hatte nur die einzige Sorge, die Kirche nicht in eine Geschichte zu verwickeln, die bestimmt war, ein schlechtes Ende zu nehmen. Monsignore Laurence, sehr fromm und von kühlem, praktischen Verstande, hatte viel gesunde Vernunft zur Regierung seines Bistums mitgebracht. Die Ungeduldigen und Eiferer gaben ihm damals den Beinamen »Ungläubiger Thomas«, weil er in seinem Zweifel verharrte bis zu dem Tage, da er durch die Tatsachen zum Nachgeben gezwungen wurde. Er hatte ein taubes Ohr und war fest entschlossen, nicht nachzugeben, außer wenn die Religion nichts dabei verlieren konnte.
Aber die Verfolgungen sollten sich verschärfen. Der Kultusminister in Paris war gewonnen worden und forderte, daß alle Unordnung aufhöre. So ließ denn der Präfekt die Zugänge zu der Grotte militärisch besetzen. Schon hatte der Eifer der Gläubigen und die Dankbarkeit der Geheilten sie mit Blumenvasen ausgeschmückt. Man warf Geldstücke in die Grotte, Geschenke für die Heilige Jungfrau strömten in Menge herbei. Es waren auch primitive Einrichtungen vorhanden, die sich von selbst entwickelten: Steinbrecher hatten eine Art Behälter ausgehauen, um das wunderbare Wasser aufzufangen, andere brachten die großen Felsblöcke hinweg und legten einen Weg auf den Hügel. Angesichts der anschwellenden Menschenflut faßte der Präfekt, nachdem er auf Bernadettes Verhaftung verzichtet hatte, den bedenklichen Entschluß, die Annäherung an die Grotte zu verbieten, und sperrte sie mittelst eines Zaunes aus starken Pfählen ab. Da hatten sich ärgerliche Dinge zugetragen: Kinder behaupteten, den Teufel gesehen zu haben, die einen machten sich einer bewußten Lüge schuldig, andere gaben damit nur wahrhaft krankhaften Anfällen nach, hervorgerufen durch die Nervenstörung, die wie eine Pest alles ergriffen hatte. Aber was für Dinge brachte erst die Ausräumung der Grotte mit sich! Erst gegen Abend konnte der Kommissar ein Mädchen auffinden, das einwilligte, ihm einen Karren zu vermieten. Zwei Stunden später fiel dieses Mädchen und brach sich eine Rippe. Auf dieselbe Art wurde einem Mann, der eine Axt dazu hergeliehen hatte, am Tag darauf durch einen abstürzenden Stein der Fuß zerschmettert. Der Kommissar nahm unter Spott und Hohn nichts mit fort als die Blumentöpfe, die brennenden Kerzen, die Sousstücke und die silbernen Herzen, die im Sand herumlagen. Man ballte die Fäuste, man nannte ihn Dieb und Meuchelmörder. Dann wurden die Pfähle des Zaunes aufgerichtet, die Bretter hingenagelt, lauter Arbeiten, die das Mysterium verschlossen, das Unbekannte absperrten und das Wunder in Gefangenschaft hielten. Und die bürgerlichen Behörden besaßen die Naivität, zu glauben, nun wäre alles zu Ende, die paar Bretter würden die armen, nach Einbildung und Hoffnung lechzenden Leute aufhalten!
Sobald die neue Religion geächtet und vom Gesetz wie ein Verbrechen verboten war, loderte sie im Grunde aller Herzen als unauslöschliche
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