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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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gesunden Geister verurteilt werden.
    Jetzt empörte sich selbst der Saal Sainte-Honorine. Pierre mußte seine Vorlesung aufs neue einen Augenblick unterbrechen wegen der halb erstickten Rufe, mit denen der Polizeikommissar als Satan und Herodes bezeichnet wurde.
    Die Grivotte hatte sich auf ihrer Matratze in die Höhe gerichtet, sie rief stotternd:
    »Ach, die Ungeheuer ... Die gute Heilige Jungfrau, die mich geheilt hat!«
    Und auch Frau Vêtu, die in ihrer geheimnisvollen Gewißheit, daß sie bald sterben würde, wieder von Hoffnung getragen wurde, ärgerte sich bei dem Gedanken, daß die Grotte nicht da wäre, wenn der Präfekt sie hinweggeschafft hätte.
    »Dann gäbe es also keine Pilgerfahrten? Wir wären nicht da und würden nicht jedes Jahr zu Hunderten geheilt?«
    Sie wurde von einem Erstickungsanfall erfaßt, und Schwester Hyacinthe mußte kommen, um sie aufrecht zu setzen. Frau von Jonquière benützte die Unterbrechung, um einer jungen, von einer Knochenmarkkrankheit befallenen Frau den Nachtstuhl hinzutragen. Zwei andere Frauen, die nicht auf ihrem Bett bleiben konnten, so unerträglich war die Hitze, gingen mit kleinen, leisen Schritten hin und her: sie sahen im schwärzlichen Schatten ganz weiß aus. Vom Ende des Saales her drang aus der Dunkelheit ein mühsamer Atem hervor, der nicht aufgehört und die Vorlesung wie mit einem Röcheln begleitet hatte. Nur Elise Rouquet schlief friedlich und stellte, auf dem Rücken ausgestreckt, ihre schreckliche Wunde zur Schau.
    Es war ein Viertel nach zwölf Uhr, und von einem Augenblick zum andern konnte der Abbé Judaine kommen, um die Kommunion zu reichen. Die Gnade kehrte wieder ein in Maries Herzen, sie war jetzt überzeugt, daß, wenn die Heilige Jungfrau abgelehnt hatte, sie zu heilen, die Schuld daran sicherlich an ihr lag, weil sich Zweifel in ihr regten, als sie in den Weiher eintrat. Sie bereute ihre Empörung wie ein Verbrechen. Konnte sie jemals Vergebung erlangen? Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie betrachtete Pierre mit trauriger Bestürzung.
    »Oh, mein Freund!« sagte sie, »wie bin ich schlecht gewesen! Beim Anhören der aus Stolz begangenen Verbrechen dieses Präfekten und seiner Beamten habe ich meine Schuld begriffen... Glauben muß man, lieber Freund! Es gibt kein Glück außer dem Glauben und der Liebe.«
    Als Pierre hier mit seiner Vorlesung aufhören wollte, schrien alle auf und verlangten die Fortsetzung. Er mußte versprechen, bis zum Sieg der Grotte zu erzählen.
    Der Zaun versperrte sie noch immer, und man mußte heimlich in der Nacht kommen, wenn man beten und eine Flasche gestohlenen Wassers mitnehmen wollte. Inzwischen nahm die Furcht vor einer Empörung zu: man erzählte, es würden ganze Dörfer vom Gebirge herabkommen, um Gott zu befreien. Es war ein Massenaufstand der Niedrigen, ein so unwiderstehlicher Vorstoß der nach dem Wunder lechzenden Leute, daß der einfache, gesunde Menschenverstand, die einfache gute Ordnung daran waren, wie Stroh weggekehrt zu werden. Monsignore Laurence in seinem bischöflichen Palast zu Tarbes war der erste, der sich ergeben sollte. All seine Klugheit, all seine Zweifel fanden sich ohnmächtig gegenüber dieser Volksbewegung. Er hatte es fünf lange Monate vermocht, sich abseits zu halten, seinen Klerus zu verhindern, die Gläubigen nach der Grotte zu begleiten und die Kirche gegen diesen entfesselten Sturm des Aberglaubens zu verteidigen. Aber wozu nützte es, weiter zu kämpfen? Er fühlte, das Elend des leidenden Volkes, dessen Wächter er war, war so groß, daß er sich darein fügte, ihm den Götzendienst zu gestatten, den es mit Heißhunger begehrte. Trotzdem entschloß er sich infolge eines Restes von Klugheit einfach dazu, eine Verordnung zu erlassen, durch die eine Kommission ernannt wurde mit dem Auftrag, zu einer Untersuchung zu schreiten. Dies bedeutete die Annahme der Wunder auf längere oder kürzere Sicht.
    Wenn Monsignore Laurence ein Mann von gesunder Bildung und kalter Vernunft war, kann man sich dann nicht vorstellen, welche Herzensangst ihn am Morgen des Tages befiel, da er diese Verordnung unterzeichnete? Er mußte in seinem Betzimmer niederknien und Gott, den Beherrscher der Welt, demütigst bitten, ihm vorzuschreiben, wie er sich zu benehmen habe. Er glaubte nicht an die Erscheinungen, er hatte eine höhere, verständigere Idee von den Offenbarungen der Gottheit. Aber war es nicht mitleidig und barmherzig, die Skrupel seiner Vernunft und seine edlen Anschauungen

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