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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Flamme auf. Die Gläubigen kamen trotzdem in noch größerer Zahl, knieten in einer gewissen Entfernung nieder und schluchzten angesichts des ihnen verwehrten Himmels. Und die Kranken, namentlich die armen Kranken, denen ein barbarischer amtlicher Beschluß die Heilung untersagte, stießen sich trotz der Verbote herum, schlichen sich durch die Löcher hinein und kletterten über die Hindernisse, von dem einzigen heißen Begehren getrieben, Wasser zu stehlen. Wie! Es gab da ein wunderbares Wasser, das den Blinden das Gesicht wiedergab, die Krüppel wieder aufrichtete und alle Übel augenblicklich erleichterte, und es hatten sich Beamte gefunden, die grausam genug waren, dies Wasser unter Verschluß zu legen, damit es aufhörte, die armen Leute zu heilen? Aber das war ja abscheulich! Ein Schrei der Verwünschung erhob sich aus dem niederen Volk, aus den Reihen der Enterbten, die das Wunder ebenso notwendig hatten wie das liebe Brot zum Leben. Dem amtlichen Beschluß zufolge mußten Protokolle über die Verbrecher aufgenommen werden, und so konnte man denn vor Gericht eine jämmerliche Reihe alter Weiber und krüppelhafter Männer vorbeiziehen sehen, die schuldig waren, am Lebensbrunnen Wasser geschöpft zu haben. Sie stammelten und flehten, und als man sie mit einer Geldbuße belegte, begriffen sie es nicht. Draußen aber murrte die Menge. Ein wütender Volksunwille stieg auf gegen diese Beamten, die so hart waren gegen das menschliche Elend, gegen diese Herren ohne Erbarmen, die erst allen Reichtum an sich gerissen hatten und nun den Armen nicht einmal den Traum des Jenseits lassen wollten, den Glauben, daß eine höhere Macht sich mütterlich um sie kümmere, indem sie ihnen den Frieden der Seele und die Gesundheit des Leibes wiedergäbe. Ein ganzer Haufen von Elenden und Kranken suchte den Bürgermeister auf. Sie knieten im Hof nieder, beschworen ihn unter Schluchzen, die Grotte wieder öffnen zu lassen, und was sie vorbrachten, war so zum Erbarmen, daß alle Welt weinte. Eine Mutter zeigte ihr halbtotes Kind vor: würde man es so in ihren Armen absterben lassen, da doch eine Quelle da war, die die Kinder anderer Mütter gerettet hatte? Ein Blinder wies auf seine trüben Augen, ein bleicher, skrofulöser Knabe ließ die Wunden seiner Beine sehen, eine gichtbrüchige Frau mühte sich ab, ihre kläglichen, verkrümmten Hände zu falten. Wollte man sie zugrunde gehen lassen? Verweigerte man ihnen den letzten göttlichen Glücksfall, ihr Leben zu erhalten, nachdem die Wissenschaft der Menschen sie aufgegeben hatte? Ebensogroß war die Betrübnis der Gläubigen, die überzeugt waren, daß eine Ecke des Himmels sich halb aufgetan hatte in der Nacht ihres finstern Daseins, und die sich empörten, daß man ihnen diese erträumte Freude entriß, diesen letzten Trost ihres menschlichen und sozialen Leids, zu glauben, daß die Heilige Jungfrau herabgestiegen sei, um ihnen die unendliche Süßigkeit ihrer Fürsprache zu bringen. Der Bürgermeister konnte nichts versprechen, und die Menge hatte sich weinend zurückgezogen, bereit zur Empörung, wie unter dem Eindruck einer großen Ungerechtigkeit, einer dummen Grausamkeit gegen die Geringen und Einfältigen, derentwegen der Himmel sich rächen würde.
    Mehrere Monate lang dauerte dieser Kampf. Es war ein außerordentliches Schauspiel, diese Leute von gesundem Verstand zu sehen, den Minister, den Präfekten, den Polizeikommissar, die gewiß von den besten Absichten beseelt waren, wie sie sich vergeblich gegen die stets wachsende Menge von Verzweifelten abmarterten, die nicht wollte, daß man ihr die Pforte des Traums, den mystischen Eingang zur künftigen Glückseligkeit, die sie über ihr gegenwärtiges Elend trösten sollte, verschließe. Die Behörden verlangten Ordnung, die Achtung vor einer weisen Religion und den Triumph der Vernunft, während das Volk durch das Bedürfnis nach Glück zur überspannten Begierde und Heilung in dieser und der andern Welt fortgerissen wurde. Oh, nicht mehr zu leiden haben, die Gleichheit des Wohlbefindens gewinnen, nur mehr unter dem Schutz einer gerechten und gütigen Mutter wandeln und nur sterben, um im Himmel wieder zu erwachen! Und notgedrungen mußte dieser glühende Wunsch der großen Volkshaufen, dieser heilige Wahn allgemeiner Freude das starre und finstere Gefüge einer wohlgeregelten Gesellschaft wegfegen – einer Gesellschaft, in der die krankhaften Krisen religiöser Wahnvorstellungen als Attentate gegen die gute Ordnung der

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