Love Alice
ich das Gefühl habe, kaum noch laufen zu können, steige ich von der Bank. Mein Anhänger zieht eine lodernde Spur über mein Brustbein.
»Bin fertig«, sage ich zum Abschied und torkele zur Tür.
»Schwächling!«, hechelt Cherry und rutscht matt auf meine Bank herunter.
Micha und ich warten draußen, bis Cherry dazukommt. Es ist überhaupt nicht kalt, obwohl ich nur in ein Handtuch gehüllt auf der Gartenbank sitze. Micha hat für uns lauwarmen Tee in einer Thermoskanne und dicke Schinkenbrote vorbereitet und für jeden eine Mandarine. Cherry kommt heraus und schnappt sich eine Tasse, bevor sie sich neben mir niederlässt. Ich ziehe die Luft tief ein, mache meine Augen zu und strecke mein Gesicht den Sonnenstrahlen entgegen.
»Ich werde euch jetzt einen geheimen Griff verraten. Zur Selbstverteidigung«, sagt Micha.
»Ich mache Karate, Papa, ich brauch so was nicht«, sagt Cherry und drückt mir eine halbe Mandarine in die Hand.
» So was bringen die euch nicht bei«, antwortet Micha.
Ich sehe ihm zu, wie er sich aufrichtet. Runde Schweißtropfen sitzen auf seinen Schultern, sein entspanntes Gesicht ist rot. Er sieht athletisch und verletzlich aus, so wie er in seinen Boxershorts vor uns steht.
»Ihr dürft auch niemandem erzählen, dass ich euch das gezeigt habe. Es ist wirklich gefährlich. Also, wenn euch einer angreift, ja? Dann machst du die Hand so flach …«, er streckt seine Hand nach vorne und sieht mich und Cherry abwechselnd dabei an, »… und drückst ihm einfach die Nase nach oben, so rein.«
Micha führt seine Handfläche an seine Nase, legt den Kopf zurück und drückt von unten gegen die Nase. Sieht komisch aus, denke ich.
»Was soll das denn?«, fragt Cherry mit einer Stimme, dass ich kichern muss.
»So drückst du das Nasenbein direkt ins Gehirn«, sagt Micha.
Er hält sich die Hand immer noch unter die Nase.
»Ja, aber was soll das bringen?«, fragt Cherry.
»So kann sogar ein Kind einen Mann töten, verstehst du?«, sagt Micha.
Ich mache seine Handbewegungen nach.
»Ihr seid schon große Mädchen, ihr müsst so was wissen. Ich bin dein Vater, und du …«, Micha sieht mich an, »… bist auch wie eine Tochter für mich.«
Mein Herz pumpt, meine Wangen glühen. Es ist bestimmt mein Kreislauf! Aber ich bin auf einmal so glücklich. Ich drücke mit der Hand vorsichtig gegen meine eigene Nase, denke noch mal über das Nasenbein nach und sage schließlich:
»Das ist ja eklig!«
»Ich finde es böse«, sagt Cherry.
Micha scheint zufrieden.
»Jetzt wisst ihr es ja«, sagt er.
Das lauwarme Duschwasser fließt langsam über meinen Kopf. Ich habe den Eindruck, das erste Mal in meinem Leben meinen Körper komplett und absolut wahrzunehmen. Die grünen Tannen, das braune Holz und das sanfte Wasser, alles ist deutlich und klar. Meine Haut ist rosarot, rote, runde Flecken zeichnen sich auf meinen Schenkeln ab. Ich fühle, wie meine Haut atmet . Ein Lächeln hängt mir im Gesicht, ohne dass ich etwas dafürkann. Als das Wasser kälter wird, drehe ich es aus. Ich trockne mich ab, nehme Mamas Creme aus der Tasche und verteile sparsam kleine Kleckse auf meiner Haut. Mama gibt Unsummen für ihre Kosmetik aus, ich traue mich kaum, sie für meine Beine zu verschwenden.
»Darf ich auch mal?«, fragt Cherry von hinten.
»Die gehört meiner Mutter«, sage ich, unsicher, ob ich ihr etwas abgeben darf.
»Ich nehme nicht viel.«
Ich weiß nicht genau, was ich tun soll. Deshalb zögere ich zu lange, Cherry dreht sich beleidigt weg und ich fühle mich wie ein furchtbarer, geiziger Gnom.
Im Auto sitze ich vorne, weil mir hinten schnell schlecht wird. Cherry schmollt hinter mir. Seit der Creme-Sache hat sie nicht mehr mit mir geredet. Ich erzähle Micha, wo Mama und ich schon überall gewohnt haben.
»Auf den Straßen in Freiburg gibt es überall kleine Bächlein, und wenn es heiß ist, kann man einfach mit den Füßen rein.« Ich klinge wie eine Reisebürosekretärin.
»Na, da könnten wir doch mal hinfahren, was, Kleines?«, sagt Micha.
Cherry bleibt unversöhnlich und schweigt wie ein Stein.
»Du willst doch nie verreisen, Papa. Und ich auch nicht«, sagt sie schließlich mit Grabesstimme.
Prompt ist die Luft zum Schneiden. Ich höre auf zu lächeln. Wir fahren still weiter. Ich fühle mich wirklich schlecht. Kleinlaut frage ich Cherry, ob ich kurz ihr Heft haben kann, in der Hoffnung, ich könnte das Thema wechseln oder zumindest gedanklich aus diesem Auto verschwinden.
»Nee, jetzt
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