Love Alice
nicht«, sagt Cherry.
Unser Abschied fällt kühl aus. Weder Mama noch Micha bemerken es, sie sind sogar sehr entspannt und flirten ganz offen miteinander. Ich werde trotzig, weil mir Cherrys beleidigte Miene übertrieben erscheint. Cherry aber fühlt sich im Recht und widersteht all meinen Versöhnungsversuchen.
Sie ist immer noch wütend auf mich. Ohne mir Bescheid zu geben, geht sie später alleine zu unserem Hügel. In der Dämmerung erkennt sie Spuren vor der Tannenhütte und folgt ihnen. Es sind Fuchsspuren, die wir schon ein paar Mal im Schnee vor der Hütte entdeckt haben. Mitten in unserer Hütte liegt ein toter Fasan, zerrissen und blutüberströmt.
Cherry bleibt entsetzt stehen. Ekel und Faszination spiegeln sich in ihrem Gesicht. Sie überlegt, wie sie den toten Vogel möglichst schnell und spurlos aus der Hütte kriegen könnte, aber seine abgerissenen Federn sind einfach überall. Die Blutspritzer sind zu roten Schneeklumpen gefroren, es riecht. Cherry kniet sich hin und gräbt an der geheimen Stelle, bis sie das Bild der Herzkönigin erkennt. Cherry neigt sich tief zur Karte hinunter. »Beschütz mich, gute Fee«, flüstert sie. Ihr Atem lässt die Glasscherbe beschlagen.
Die Straßenbeleuchtung in der Ferne springt an, die Lampen surren, erzittern und leuchten lila auf. Cherry setzt sich an den Hang und betrachtet die vorbeirasenden Autos. Sie holt ihr Heft aus dem Rucksack und beginnt zu schreiben, um die Angst zu vertreiben, die ihr ungewohnt und seltsam die Kehle einschnürt. »Absolut und keine Ahnung, was du hier zu tun gedenkst, aber denke aller Achtung, dass du Eier legst, du Hengst. Schleim und Grütze in der Pfütze, Marmelade in den Topf, ich verspreche dir, ich flechte dir beizeiten einen Zopf.«
Als Cherry nach Hause aufbricht, ist es bereits dunkel. Ihre Schritte sind eilig und sie sieht immer hinter sich. Ihre Stimme schwankt zwischen Gebrüll und Geflüster. »Bitte tanze einfach weiter, dreh dich nicht und bleibe heiter. Hinter uns, da schwimmt die Schlange, kringel krangel, Mausezange.«
Die schwarzen Bäume umrahmen filigran den tiefblauen Himmel. Die letzten Sätze brüllt Cherry in die Dunkelheit.
Das Hawaiimenuett
Die Wärmewelle überfällt uns spontan und viel zu früh für die Jahreszeit. Mama ist überzeugt, dass es die globale Erderwärmung ist. Sie weissagt allen Menschen den Tod durch die eigens verbrochene Umweltzerstörung und schafft es tatsächlich, aufrichtige Traurigkeit bei dem besten Wetter aller Zeiten zu entwickeln. Die riesigen Schneemänner, die ich mit Cherry gebaut habe, schmelzen, die kleinen, die wir auf unseren Wegen platziert haben, wir nennen sie Wichtel, halten sich überraschenderweise länger und schneiden komische Grimassen, während ihnen langsam die Kälte entweicht.
Tuulas Busen scheint noch größer zu sein, seit sie auf geknöpfte Seidenblusen umgestiegen ist. Nesrin schält sich endlich aus ihren tausend Wolltüchern und präsentiert schmale Fesseln und fragile Handgelenke, die alle Mädchen unserer Klasse um den Schlaf bringen. In der ganzen Schule herrscht beschwingte Stimmung, und ich schaffe es sogar einmal, ein paar normale Worte mit Andy zu wechseln. Dabei sage ich so was wie: »Heute mal pünktlich?«, und er antwortet: »Es lohnt sich nicht, zu schlafen!«. Damit bringt er es auf den Punkt: Der Frühling ist da.
An einem Wochenende stehe ich auf, öffne das Fenster einen Spalt weit und stecke meine Nase raus. Eine flirrende Frische liegt in der Luft, etwas Mitreißendes. Vögel zwitschern wie in einem Disneyfilm, überall blühen Windröschen, es ist fast zu kitschig. Als Erstes melde ich mich bei Cherry.
»Wir machen Frühlingsputz. Paps wird seinen ganzen Alk los«, sagt Cherry und ich höre im Hintergrund Micha mit Altglas klimpern. Wir verabreden uns und legen schnell auf, um keine Zeit zu verlieren.
Wir müssen eine Weile laufen, bis wir bei dem Bach ankommen. Er ist etwa anderthalb Meter breit und dicht bewachsen, wie tief er ist, kann man im dunklen Wasser nicht erkennen. Ich habe zwei leere Marmeladengläser aus unserer Küche dabei, die bei jedem Schritt in meinen Jackentaschen klimpern. Wir finden die Stelle kurz bevor der Bach im Unterholz verschwindet, zwischen Schnellstraße und Kiesweg. Hier ist der Teich. Cherry inspiziert das Ufer. Ich höre, wie der Bach plätschert. Es ist ein helles, fröhliches Geräusch und ich möchte es mir genau so merken. Ich sehe Cherrys konzentrierte Miene und wünsche mir, niemals
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