Love Train
Gruselvorstellungen mir plötzlich selbst lächerlich erschienen.
Das Ganze wirkte eher wie ein beschauliches Dorf mit etwas ungewöhnlichen Häusern. Es gab sogar StraÃenschilder und einen grünen Briefkasten, und gleich hinter dem Eingang stand auf der linken Seite ein groÃer Lageplan mit einem alphabetischen Katalog aller Berühmtheiten, die auf dem Père-Lachaise ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Juli lachte, als ich darauf deutete.
»Schon ein bisschen pietätlos, oder?«, bemerkte ich.
»Wieso? Ich wette, den Promis wäre das nur recht gewesen«, tat sie meinen Einwand ab. »Warum sollte denen nach ihrem Tod weniger an der allgemeinen Aufmerksamkeit gelegen sein als davor?« Auch wieder wahr. Immerhin stoppte Juli endlich ihren Tobias-ist-toll-Monolog und studierte stattdessen neugierig die Informationstafel.
»Kenn ich nicht, kenn ich nicht, kenn ich nicht«, murmelte sie vor sich hin und erklärte schlieÃlich: »Keine Ahnung, was das für Promis sein sollen. Sind ja alle völlig unbekannt.«
»Na komm«, wandte ich zur Ehrenrettung des berühmten Père-Lachaise ein. »Balzac wirst du doch wohl kennen. Chopin? Molière? Oder hier: Oscar Wilde.« Diese Namen waren so berühmt, die kannte sogar ich!
»Ja, klar«, grummelte Juli. »Aber die sind doch alle schon ewig tot.«
»Das ist ein Friedhof! Natürlich sind die tot.«
»Ich dachte bloÃ, da wären ein paar echte Promis dabei â¦Â«
Ich verdrehte die Augen und überlegte, wie Juli es eigentlich geschafft hatte, so super Schulnoten abzusahnen. Falls sie wirklich so intelligent war, wie das Abizeugnis ihr bescheinigte, schaffte sie es meistens, das gut zu verbergen.
Wir liefen nach rechts, weil das der kürzeste Weg zu Jim Morrisons Grab war. Gemütlich schlenderten wir über schmalere Seitenwege, durch die Blätter der Bäume malte die Sonne helle Flecken auf den Boden vor unseren FüÃen. Immer wieder kamen uns andere Touristen mit faltbaren Friedhofsplänen in den Händen entgegen, die alle Richtung Ausgang strebten. Wir lieÃen uns Zeit, denn wir hatten sie quasi im Ãberfluss.
Je weiter sich die Zeiger auf sechs Uhr zubewegten, desto verwunderter wurden jedoch die Blicke der anderen Besucher, wenn sie an uns vorbeigingen. Ich fragte mich, ob sie dem Pförtner am Ausgang melden würden, dass zwei Mädchen planten, die Nacht auf dem Friedhof zu verbringen, hielt das aber für unwahrscheinlich. Trotzdem wandten Juli und ich uns nach einer Weile, ohne dass wir uns abgesprochen hatten, vom Weg ab und tauchten zwischen einigen hohen Grabmä lern unter, die uns vor weiteren neugierigen Blicken schützten. Wir lehnten uns mit den Rücken gegen ein Mausoleum, dessen Wände mit dunkelgrünem Moos bewachsen waren, und betrachteten die Ruhestätte vor uns.
Das Grab war mit Abstand pompöser als alle anderen: Wie eine Miniaturkirche erhoben sich Säulen, Bögen, Giebel und Türmchen über zwei Sarkophagen, auf denen nebeneinander zwei Statuen ruhten. »Da hat sich aber jemand Mühe gegeben«, stellte Juli nicht unbeeindruckt fest. »Wer da wohl liegt?«
Ich zog mein Smartphone aus dem Rucksack und suchte nach der Antwort. »Heloïse und Abélard«, erklärte ich schlieÃlich. »Man nennt sie auch die tragischen Liebenden.«
»Ui.« Vermutlich witterte Juli einen handfesten Skandal. »Erzähl mal.«
Ich überflog die Erklärungen. »Abélard war Professor für Theologie und Heloïse seine Schülerin. Sie war gerade siebzehn, er zwanzig Jahre älter als sie. Die beiden fingen was miteinander an und ⦠ups â¦Â«
»Was?« Juli schaute mich gespannt an.
»Heloïses Onkel hatte was gegen die Beziehung und lieà Abélard kastrieren. Am Ende landeten beide im Kloster und schrieben sich heiÃe Liebesbriefe.«
»Na ja, sehr viel mehr hätte sie mit ihrem Liebhaber eh nicht mehr anfangen können«, stellte Juli trocken fest und ich seufzte. Meine Schwester dachte wirklich nur an das Eine! Ich hingegen fand die Geschichte schwer romantisch! Aber ehrlich gesagt geht mir das mit fast jeder Art von Liebesgeschichte so.
Plötzlich fiel mir der Zettel ein, der noch immer in meinem Tagebuch steckte, die Textstelle, die ich noch nicht freigelassen hatte. Ich fand, dass sie hervorragend zu diesem Grab mit den steinernen Liebenden passte.
Weitere Kostenlose Bücher