Love
Tränen, die noch in ihren Augen gestanden hatten, liefen ihr übers Gesicht.
Jetzt drehte sie den Zeitungsausschnitt auf den Kopf und las die andere, deutlich längere Mitteilung.
18. August 198 8 Lieber Scott (wenn Sie gestatten), ich dachte, Sie würde n dieses Foto von C. Anthony (»Tony«) Eddington III , dem jungen Graduierten, der Ihnen das Leben gerettet hat , haben wollen. Die U-Tenn wird ihn natürlich ehren , aber wir dachten, auch Sie würden sich mit ihm i n Verbindung setzen wollen. Seine Anschrift lautet : 748 Coldview Avenue, Nashville North, Nashville, Tennesse e 37235. Mr. Eddington, »arm, aber stolz«, stammt aus eine r guten Familie im Süden Tennessees und ist ein sehr begabte r Lyriker. Sie werden ihm natürlich auf Ihre Weise danke n (und ihn vielleicht belohnen) wollen. Ich verbleib e mit vorzüglicher Hochachtung, Sir, Ihr Roger H. Dashmie l Assoc. Prof., English Dept . University of Tennessee, Nashvill e
Lisey las die Mitteilung einmal, zweimal (»once, twice, three times a laa-dy«, hätte Scott an dieser Stelle gesungen), noch immer mit einem Lächeln, aber jetzt gesellte sich eine säuerliche Mischung aus Erstaunen und endlich Begreifen hinzu. Was sich wirklich ereignet hatte, wusste Roger Dashmiel ver mutlich so wenig wie der Campus-Cop. Was bedeutete, dass es auf dem gesamten Globus nur zwei Menschen gab, die die Wahrheit über jenen Nachmittag kannten: Lisey Landon und Tony Eddington, der junge Mann, der im Jahresbericht der Universität darüber schreim würde. Vielleicht hatte selbst »Toneh« nicht mitbekommen, was nach dem zeremoniellen ersten Spatenstich passiert war. Möglicherweise hatte er einen von Angst ausgelösten Blackout gehabt. Fazit: Vielleicht bil det er sich tatsächlich ein, Scott Landon das Leben gerettet zu haben.
Nein. Das glaubte sie nicht. Ihrer Überzeugung nach waren der Zeitungsausschnitt und die übertrieben mitteilsame hand schriftliche Anmerkung Dashmiels kleinliche Rache an Scott, weil er … ja, wofür?
Nur weil er höflich gewesen war?
Weil er Dashmiel, den Homme de lettres, gesehen, aber nicht wahrgenommen hatte?
Weil er ein reicher, kreativer Rotzlöffel war, der fünfzehn tausend Dollar dafür kassieren würde, dass er ein paar erhe bende Worte sprach und eine einzige Schaufel Erde umgrub? Noch dazu bereits gelockerte Erde?
Für all das. Und noch mehr. Lisey ahnte, dass Dashmiel irgendwie der Ansicht gewesen war, in einer besseren, faireren Welt wären ihre Positionen vertauscht gewesen: Dort hätte er, Roger H. Dashmiel, im Mittelpunkt des intellektuellen Interes ses und der Bewunderung der Studenten gestanden, während Scott Landon und natürlich seine farblose kleine Frau – seine Mrs. Würde-nicht-mal-furzen-wenn-ihr-Leben-davon-abhin ge – diejenigen waren, die in den Campus-Weinbergen schuf teten, sich überall einzuschmeicheln versuchten, ihr Mäntel chen nach dem Wind der Departmentpolitik hängten und sich abstrampelten, um die nächste Gehaltsstufe zu erklimmen.
»Was immer es war, er konnte Scott nicht leiden, und das hier war seine Rache«, erklärte sie staunend den leeren, sonni gen Räumen über der langen Scheune. »Dieser … verleumde rische Zeitungsausschnitt.«
Sie dachte einen Augenblick über diese Idee nach, dann brach sie in fröhliche Lachsalven aus, bei denen sie sich mit beiden Händen auf den flachen Bereich oberhalb ihrer Brüste schlug.
Sobald sie sich etwas erholt hatte, blätterte sie in der REVIEW , bis sie den gesuchten Artikel gefunden hatte: AME RIKAS BERÜHMTESTER ROMANAUTOR BRINGT LANGE GE HEGTEN BIBLIOTHEKSTRAUM AUF DEN WEG. Der Verfasser war Anthony Eddington , auch bekannt als Toneh . Und wäh rend Lisey ihn überflog, stellte sie fest, dass sie sehr wohl imstande war, Ärger zu empfinden. Sogar Wut. Denn hier wurde mit keinem Wort erwähnt, wie die Feierlichkeiten an jenem Tag geendet hatten – übrigens auch nicht das ver meintliche Heldentum des Verfassers. Der einzige Hinweis darauf, dass irgendetwas dramatisch schiefgegangen war, fand sich in den Schlusssätzen: »Mr. Landons Rede nach dem ersten Spatenstich und seine abendliche Lesung im Studen tenklub wurden wegen unerwarteter Ereignisse abgesagt, aber wir hoffen, diesen Giganten der amerikanischen Literatur bald wieder auf unserem Campus begrüßen zu dürfen. Viel leicht um das zeremonielle Band zu durchschneiden, wenn die Shipman 1991 ihre Pforten öffnet!«
Die Einsicht, dass dies nur der Jahresbericht der Uni war, um Himmels willen,
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