Love
der man mit höchstem Respekt begegnen muss.
Sie legt den nutzlosen Telefonhörer wieder auf und hastet in leise raschelnden Hausschuhen den Flur entlang zu Scott zurück. Sein Zustand ist unverändert. Der quengelnde Fünfzi gerjahre-Country-Soundtrack von Die letzte Vorstellung mit ten in der Nacht war schlimm, aber die Stille ist schlimmer, schlimmer, am schlimmsten. Und kurz bevor ein gewaltiger Windstoß das Haus packt und von seinem Fundament zu stoßen droht (sie kann kaum glauben, dass sie noch Strom haben; bestimmt fällt auch der bald aus), erkennt sie, weshalb selbst der Sturm eine Erleichterung ist: Er verhindert, dass sie ihn atmen hört. Scott wirkt nicht tot, er hat sogar etwas Farbe im Gesicht, aber woher weiß sie, dass er es nicht ist?
»Schatz?«, murmelt sie, als sie auf ihn zutritt. »Schatz, kannst du mit mir reden? Kannst du mich ansehen?«
Er sagt nichts, er sieht sie auch nicht an, aber als sie mit ihren klammen Fingern seinen Hals berührt, stellt sie fest, dass die Haut warm ist, und spürt seinen Herzschlag in der großen Vene oder Arterie, die dort dicht unter der Haut liegt. Und noch etwas anderes: Sie kann fühlen, dass er sie zu erreichen versucht. Bei Tageslicht, sogar bei kaltem Tageslicht, windi gem Tageslicht (von der Art, die in Die letzte Vorstellung alle Außenaufnahmen zu beherrschen scheint, wenn sie es sich recht überlegt) würde sie diesen Gedanken bestimmt zurück weisen, aber nicht jetzt. Jetzt weiß sie, was sie weiß. Er braucht ebenso Hilfe wie damals an dem Tag in Nashville: Erst als der Verrückte ihn niedergeschossen hatte, dann als er zitternd auf dem heißen Asphalt gelegen und um Eis gebettelt hat.
»Wie soll ich dir helfen?«, murmelt sie. »Wie kann ich dir jetzt helfen?«
Es ist Darla, die ihr antwortet, Darla im Teenageralter – »Nichts als junge Titten un' Boshaftigkeit«, hatte Good Ma einmal gesagt: eine für sie untypische Vulgarität, sodass sie wirklich über alle Maßen aufgebracht gewesen sein musste.
Dem ist nicht zu helfen, warum redest du davon, ihm zu helfen?, fragt Darla, und diese Stimme klingt so real, dass Lisey fast den Gesichtspuder von Coty, den Darla benutzen durfte (wegen ihrer Pickel), riechen und das Zerplatzen ihres Dubble Bubble hören kann. Und Donnerwetter! Sie ist unten am Pool gewesen und hat ihr Netz ausgeworfen und einen reichen Fang eingebracht. Der hat nicht mehr alle beisam
men, Lisey, bei dem ist eine Schraube locker, er hat einen Hieb weg, einen Sprung in der Schüssel, und du kannst nicht mehr für ihn tun, als die Männer in Weiß anzurufen, sobald das Telefon wieder funktioniert. Lisey hört Darlas Lachen, aus dem die vollkommene Verachtung eines Teenagers spricht, sie hört es tief im Innern ihres Kopfes, während sie auf ihren Mann hinabsieht, der mit starrem Blick im Schaukelstuhl sitzt. Ihm helfen?, schnaubt Darla. Ihm HELFEN ? Ach du lieber Him mel, wie denn das?
Und trotzdem glaubt Lisey, dass sie es kann. Sie glaubt, dass es eine Möglichkeit gibt.
Das Dumme ist nur, dass ihre Methode, ihm zu helfen, möglicherweise gefährlich und keineswegs sicher ist. Lisey ist ehrlich genug, sich einzugestehen, dass sie an einigen der Probleme selbst schuld ist. Hinter einer Art Vorhang in ihrem Verstand hat sie bestimmte Erinnerungen verborgen, zum Beispiel an ihren erstaunlichen Abgang aus der Grotte unter dem Lecker-Baum, und unerträgliche Wahrheiten versteckt, zum Beispiel die Wahrheit über Scotts heiligmäßigen Bruder Paul. Dahinter gibt es bestimmte Laute
(das Puffen, o Gott, dieses tiefe hässliche Grunzen)
und auch bestimmte Bilder
(die Kreuze auf dem Friedhof die Kreuze im Blutlicht)
die sie unterdrückt hat. Manchmal fragt sie sich, ob alle Leute einen solchen Vorhang im Kopf haben, mit einer Bloß nicht-nachdenken-Zone dahinter. Sie sollten einen haben. Er ist zweckmäßig. Erspart einem viele schlaflose Nächte. Hinter ihrem Vorhang hat sich jede Menge alter Mist angesammelt: Zeug von dieser Art, Kram von jener Art, Zeug von ganz ande rer Art. Insgesamt ein kurioses Labyrinth. Mein Gott, wie du mich überraschst, kleine Lisey … und was würden ihre Schwes tern dazu sagen?
»Geh nicht hin«, murmelt Lisey, aber sie denkt, dass sie es tun wird; sie denkt, dass sie dort hingehen muss – wo immer dort liegt –, wenn sie eine Chance haben will, Scott zu retten, ihn zurückzuholen.
Oh, aber es liegt gleich nebenan.
Das ist das Entsetzliche daran.
»Du weißt es, nicht wahr?«, sagt sie und
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