Love
– ungefähr zwei Wochen –, in der sie sich einbildet, dass die Dinge sich bessern. Später wird sie sich fragen, wie sie so töricht, so vorsätzlich blind ge wesen sein konnte und seinen verzweifelten Kampf, die Welt (und sie!) nicht zu verlieren, für irgendeine Art Besserung halten. Aber wenn sich einem nur Strohhalme bieten, klam mert man sich natürlich daran.
Es gibt etliche dicke Halme, an die man sich klammern kann. In den ersten Tagen des Jahre 1996 scheint seine Trinkerei ganz aufzuhören, wenn man von einem gelegentlichen Glas Wein zum Abendessen absieht, und er geht jeden Tag hinüber in sein Büro. Erst später – später, später, Alligäter , haben sie skan diert, als sie als Kinder ihre ersten Wortburgen am sandigen Ufer des Pools gebaut haben – wird sie erkennen, dass er in die sen Tagen keine einzige Manuskriptseite geschrieben, sondern nur heimlich Bourbon getrunken und Pfefferminzbonbons gelutscht und wirre Mitteilungen an sich selbst geschrieben hat. Unter der Tastatur des Macs, an dem er gegenwärtig ar beitet, wird sie ein Stück Papier finden – nämlich ein Memo mit dem Aufdruck Von Scott Landons Schreib tisch – mit den hingekritzelten Worten: Traktorkette sagt dass du zu spät dran bist Scoot du alter Scooter, selbst jetzt.
Erst als dieser eisige Wind, der aus Yellowknife heranzieht, ums Haus heult, wird sie endlich die tiefen halbmondförmigen Einschnitte in seinen Handflächen sehen. Schnittwunden, die er sich nur mit den eigenen Fingernägeln zugefügt haben konnte, während er darum kämpfte, Leben und Verstand zu behalten, wie ein Bergsteiger, der sich im Schneesturm an eine gottverdammte Felskante klammert. Erst später wird sie sein Versteck mit leeren Bourbonflaschen finden, insgesamt über ein Dutzend, aber deswegen braucht sie sich keine Vorwürfe zu machen, denn diese leeren Flaschen waren gut versteckt.
Die ersten Tage des Jahres 1996 sind für die Jahres zeit zu warm: Es ist das, was die Alteingesessenen Januartau wetter nennen. Aber schon ab dem dritten Januar fangen die Meteorologen an, vor einem gravierenden Umschwung, vor einer erschreckenden Kältewelle zu warnen, die aus den eisi gen Weiten Mittelkanadas heranrollt. Die Bewohner Maines werden ermahnt, dafür zu sorgen, dass ihre Heizöltanks ge füllt und ihre Wasserleitungen isoliert sind und sie genügend warme Plätze haben, um ihr Vieh unterzubringen. Die Tempe raturen würden unter minus 30 Grad Celsius sinken, trotzdem würden die Temperaturen das geringste Problem sein. Weit schlimmer wären die vorhergesagten stürmischen Winde, die die gefühlte Temperatur garantiert unter die 50-Grad-Marke trieben.
Lisey ist ängstlich genug, um ihren Bauunternehmer anzu rufen, nachdem es ihr nicht gelungen ist, bei Scott ernstliche Besorgnis zu wecken. Gary versichert ihr, dass die Landons das am besten isolierte Haus am Castle View hätten, ver spricht ihr, Liseys Verwandtschaft genau im Auge zu behalten (vor allem Amanda, das versteht sich fast von selbst), und erinnert sie daran, dass kaltes Wetter einfach zum Leben in Maine gehörte. Nur ein paar echt schattige Nächte, dann ist der Frühling schon fast wieder in Sicht, sagt er.
Aber als die arktischen Temperaturen und die stürmischen Winde am fünften Januar tatsächlich hereinbrechen, sind sie schlimmer als alles, was Lisey je erlebt hat, selbst wenn sie an ihre Kindheit zurückdenkt, in der ihr jedes Unwetter, das sie als Kind fröhlich überstand, vorkam wie ein Orkan und jede Schneeflocke wie ein Schneesturm. Sie lässt alle Thermostate im Haus auf 25°C gestellt, und die neue Heizung läuft ständig, trotzdem liegt zwischen dem sechsten und neunten Januar die Innentemperatur nie über 17°C. Der Sturm heult nicht nur um die Dachvorsprünge, sondern kreischt wie eine Frau, der ein Verrückter Zentimeter für Zentimeter den Bauch aufschlitzt – mit einem stumpfen Messer. Der Schnee, der das Januartauwetter überlebt, wird von Winden bis zu siebzig Stundenkilometern (die Böen erreichen über hundert Stundenkilometer und knicken im mittleren Maine und in New Hampshire ein halbes Dutzend Sendemasten) aufgewirbelt und tanzenden Gespenstern gleich über die Felder getrieben. Wenn dieser granulierte Schnee die Sturmfenster trifft, rasselt er dagegen wie Hagelkörner.
In der zweiten Nacht dieser extravaganten kanadischen Kälte wacht Lisey kurz nach ein Uhr morgens auf und stellt fest, dass Scott wieder einmal aus ihrem Bett verschwunden ist. Sie findet ihn
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