Love
die Bewegung des Aufsetzens ließ sie wie der aufbrechen. Die Schmerzen waren ungeheuer. Lisey schrie auf, aber das machte alles nur noch schlimmer. Sie spürte, wie ihr warmes Blut über die Rippen lief. Die dunklen Schwingen, die sie bereits kannte, wollten ihr wieder die Sicht rauben, aber sie vertrieb sie durch bloße Willenskraft, indem sie wie der und wieder ihr Mantra aufsagte, bis ihre Umgebung sich stabilisierte: Ich muss diese Sache zu Ende bringen, ich muss hinter das Purpurne. Ich muss diese Sache zu Ende bringen, ich muss hinter das Purpurne. Ich muss diese Sache zu Ende bringen, ich muss hinter das Purpurne.
Ja, hinter das Purpurne. Auf dem Hügel waren es Lupinen gewesen; in ihrem Verstand war es der schwere Vorhang, den sie selbst angebracht hatte – vielleicht mit Scotts Hilfe, jeden falls mit seinem stillschweigenden Einverständnis.
Ich bin schon früher dahinter gewesen.
Wirklich? Ja.
Und ich werde es noch mal schaffen. Ich gelange dahinter oder reiße das gottverdammte Ding notfalls runter.
Frage: Hatten Scott und sie nach jener Nacht im Antlers jemals wieder über Boo'ya-Mond gesprochen? Lisey glaubte es nicht. Sie hatten natürlich ihre Codewörter gehabt, die weiß Gott manchmal aus dem Purpurnen geschwebt gekom men waren, wenn sie ihn in Einkaufszentren und Supermärk ten nicht hatte finden können … ganz zu schweigen von der Episode, als die Krankenschwester ihn in seinem Bett über sehen hatte … und die gemurmelte Erwähnung seines Long Boys, als er auf dem Parkplatz gelegen hatte, nachdem Gerd Allen ihn niedergeschossen hatte, und später in Kentucky … in Bowling Green, als er im Sterben lag …
Stopp, Lisey!, riefen die Stimmen im Chor. Das darfst du nicht, kleine Lisey! Mein Gott, untersteh dich!
Sie hatte versucht, Boo'ya-Mond hinter sich zu lassen, so gar nachdem sie im Winter 96, als …
»Nachdem ich wieder dort gewesen bin.« Im Büro ihres toten Mannes klang ihre Stimme heiser, aber klar. »Im Winter 1996 war ich noch einmal dort. Ich bin hingegangen, um ihn zurückzuholen.«
Nun war es heraus, und die Welt drehte sich ungerührt wei ter. Aus den Wänden traten keine Männer in Weiß, um sie wegzubringen. Lisey hatte sogar den Eindruck, dass sie sich etwas besser fühlte, was vielleicht nicht einmal überraschend war. Wenn man der Sache wirklich auf den Grund ging, war die Wahrheit vielleicht ein Bool und wollte nichts anderes, als unbedingt gefunden zu werden.
»Okay, jetzt ist es draußen – teilweise, wenigstens die Sache mit Paul – kann ich jetzt ein verdammtes Glas Wasser krie gen?«
Niemand sagte Nein, und indem Lisey sich an Dumbo's Big Jumbo hochzog, schaffte sie es, auf die Beine zu kommen. Die dunklen Schwingen kehrten zurück, aber sie ließ ihren Kopf tief hängen, damit möglichst viel Blut in ihr Spatzenhirn ge langte, und diesmal ging der Schwächeanfall rascher vorüber. Sie nahm Kurs auf die Barnische, wobei sie der eigenen Blut spur folgte, machte breitbeinige langsame Schritte und über legte sich, dass sie aussehen musste wie eine alte Frau, der man ihr Gehwägelchen gestohlen hat.
Lisey schaffte es und hatte dabei nur einen flüchtigen Blick für das auf dem Teppichboden liegende Glas übrig. Mit dem wollte sie nichts mehr zu tun haben. Sie nahm ein neues Glas aus dem Schrank, wobei sie wieder nur die rechte Hand be nutzte – mit der linken drückte sie weiter das durchgeblutete Häkelquadrat gegen ihre Brust –, und ließ kaltes Wasser hin einlaufen. Jetzt blubberte und spuckte die Leitung kaum noch. Sie öffnete die Tür des Spiegelschranks über dem Ausguss und fand darin, was sie zu finden gehofft hatte: ein Fläsch chen von Scotts Excedrin. Zum Glück ohne Kindersicherung im Deckel, die die Sache verzögert hätte. Sie verzog das Ge sicht wegen des säuerlichen Geruchs, der ihr entgegenschlug, als sie die Verschlusskappe mit dem Daumen öffnete, und las dann das Verfallsdatum: JUL 05. Na schön, dachte sie, ein Mächen muss tun, was ein Mädchen tun muss.
»Ist, glaube ich, von Shakespeare«, krächzte sie und warf drei Excedrin ein. Sie wusste nicht, ob das Zeug ihr helfen würde, aber das Wasser war himmlisch, und sie trank, bis ihr Magen sich verkrampfte. Sie stand da, klammerte sich an den Rand des Beckens in der Barnische ihres toten Mannes und wartete darauf, dass der Krampf nachließ. Das tat er schließlich. So blieben nur die Schmerzen in ihrem zerschlagenen Gesicht und das viel tiefere Pochen in ihrer zerfleisch ten
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