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Love

Love

Titel: Love Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Bruders befördern wird. Er hat schon oft solche Schläge ein stecken müssen, und im Allgemeinen lässt ihn schon der Ge danke daran zusammenzucken, aber jetzt steht er aufrecht zwischen Pauls gespreizten Beinen und sieht seinem Vater ins Gesicht. Das fällt ihm schwer, aber er schafft es. Weil sie gemeinsam Schreckliches durchlebt haben und es auf ewig für sich werden behalten müssen: Psssst! Das gibt ihm das Recht, diese Bitte zu äußern, und es gibt ihm das Recht, Daddy ins Gesicht zu sehen, während er auf seine Antwort wartet.
    Daddy fällt nicht über ihn her. Stattdessen holt er tief Luft, atmet geräuschvoll aus und wendet sich ab. Und knurrt: Als Nächstes sagst du mir, wann ich die Böden wischn und das Klo putzn soll, schätz ich . Ich zähl bis dreißig, Scoot
    21 »Ich zähl bis dreißig, dann dreh ich mich um«, wieder holt Scott. »Das hat er vermutlich gesagt, aber ich hab es nicht mehr mitgekriegt, weil ich aus dieser Welt verschwunden bin. Und Paul ebenfalls, ohne dass seine Ketten ihn hätten zurückhalten können. Als Toten konnte ich ihn so leicht wie immer mitnehmen – vielleicht sogar leichter. Ich möchte wetten, dass Daddy niemals bis dreißig gekommen ist. Teufel, ich wette sogar, dass er noch gar nicht zu zählen angefangen hatte, als er ein Kettenklirren oder vielleicht das Geräusch gehört hat, mit dem die Luft das Vakuum aufgefüllt hat, das durch unser Verschwinden entstanden ist, und als er sich umgedreht hat, hatte er den Keller ganz für sich allein.« Scott liegt entspannt neben ihr; der Schweiß auf seinem Gesicht, auf den Armen und auf seinem Körper beginnt zu trocknen. Er hat es erzählt, hat sich von dem Schlimmsten befreit, hat es herausgewürgt.
    »Das Geräusch«, sagt sie. »Darüber habe ich schon nachge dacht, weißt du. Ob unter der Weide ein Geräusch zu hören war, als wir … du weißt schon … rausgekommen sind.«
    »Als wir geboomt sind.«
    »Ja, als wir … das sind.«
    »Als wir geboomt sind, Lisey. Sag's einfach.«
    »Als wir geboomt sind.« Sie fragt sich, ob sie verrückt ist. Sie fragt sich, ob er es ist – und ob man sich mit dieser Ver rücktheit anstecken kann.
    Jetzt zündet er sich eine weitere Zigarette an, und im Feuer schein des Streichholzes ist sein Gesicht ehrlich neugierig. »Was hast du gesehen, Lisey? Woran erinnerst du dich?«
    Sie sagt zweifelnd: »An eine Menge Purpur, das einen Hü gel hinabgeflossen ist … und ich hatte ein Gefühl von Schat ten, als stünden direkt hinter uns Bäume, aber alles ist so schnell gegangen … es hat nicht länger als ein, zwei Sekunden gedauert …«
    Er lacht und drückt sie mit einem Arm an sich. »Das ist der Sweetheart Hill, von dem du da redest.«
    »Sweetheart …?«
    »Paul hat ihn so genannt. Die Erde unter diesen Bäumen ist wunderbar dunkel und weich – ich glaube nicht, dass es drü ben einen Winter gibt –, und dort habe ich ihn begraben. Dort habe ich meinen Bruder begraben.« Scott betrachtet sie ernst, dann fragt er: »Möchtest du diese Welt sehen, Lisey?«
    22 Lisey hatte trotz ihrer Schmerzen auf dem Teppich boden des Büros geschlafen …
    Nein. Sie hatte nicht geschlafen; mit solchen Schmerzen konnte man nicht schlafen. Nicht ohne irgendein Medika ment. Was war sie also gewesen?
    Hypnotisiert.
    Sie probierte dieses Wort an und stellte fest, dass es nahezu perfekt passte. Sie war in eine Art doppelte (vielleicht so gar dreifache) Erinnerung abgeglitten. Total Recall . Aber ab diesem Punkt waren ihre Erinnerungen an das kalte Gäste zimmer, in dem sie ihn in dem katatonischen Zustand ange troffen hatte, und an sie beide in dem knarrenden Bett im Obergeschoss vom Antlers (siebzehn Jahre länger her, aber eine klare Erinnerung) komplett gelöscht. Möchtest du diese Welt sehen, Lisey?, hatte er sie gefragt – ja, ja –, aber was als Nächstes gekommen war, ging in grellem purpurrotem Licht unter, blieb hinter diesem Vorhang verborgen, und als sie eine Hand danach ausstreckte, riefen Autoritätsstimmen aus ihrer Kindheit (Good Ma, Dandy, alle ihre größeren Schwestern) panikartig lärmend durcheinander: Nein, Lisey! Das reicht, Lisey! Nicht weiter, Lisey!
    Ihr Atem stockte. (Hatte er gestockt, als sie bei ihrem Ge liebten gelegen hatte?) Sie öffnete die Augen. (Sie waren offen gewesen, als er sie in die Arme genommen hatte, das wusste sie bestimmt.) Das helle Licht eines Junimorgens – eines Junitags im
    21. Jahrhundert – verdrängte das aufdringlich grelle Purpurrot von einer

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