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Love

Love

Titel: Love Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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jähen Windstoß erfasst hoch, und auf dem schrägen Stützpfeiler erscheint ein großer scharlachroter Klecks. Die Beine des Wesens zucken ein einziges Mal verrückt wie die einer Comic figur, dann liegen sie still. Die um Scotts Hals liegenden Hän de verkrampfen sich einen Augenblick etwas enger, dann fal len sie, flump, auf den festgestampften Boden. Daddys Arm umfasst Scott, hebt ihn auf.
    Alles in Ordnung, Scott? Kriegst du Luft?
    Mir fehlt nichts, Daddy. Musstest du ihn erschießen?
    Hast du kein Gehirn zum Denken?
    Scott hängt schlaff im Bogen des väterlichen Arms und kann nicht glauben, was passiert ist, obwohl er ahnt, dass es so war. Er wünscht sich, er könnte in Ohnmacht fallen. Wünscht sich – zumindest ein bisschen –, auch er könnte sterben.
    Daddy schüttelt ihn. Er hätt dich umgebracht, stimmt's?
    J-J-Ja.
    Da hast du gottverdammt recht! Himmel, Scotty, er hat sich seine beschissenen Haare an den Wurzeln ausgerissen, um an dich ranzukommen! Um dir an die Kehle zu gehn!
    Scott weiß, dass das stimmt, aber er weiß auch etwas ande res. Sieh ihn dir an, Daddy – sieh ihn dir jetzt an!
    Er hängt noch einige Augenblicke länger schlaff wie eine Stoffpuppe oder eine Marionette mit durchgetrennten Schnü ren im väterlichen Arm, dann setzt Landon ihn langsam ab, und Scott weiß, dass sein Vater sieht, was er sehen soll: nur einen Jungen. Nur einen unschuldigen Jungen, den sein wahnsinniger Vater mithilfe seines gefügigen jüngeren Bru ders im Keller angekettet und dann hat hungern lassen, bis sein Körper ausgemergelt und mit Geschwüren übersät war; einen Jungen, der so erbarmungswürdig verzweifelt um sei ne Freiheit gekämpft hat, dass er den Stahlpfeiler und den schweren Druckertisch, an die er gekettet war, tatsächlich verrückt hat. Einen Jungen, der drei albtraumhafte Wochen hier unten gefangen war, bevor er mit einem Kopfschuss hin gerichtet wurde.
    Ich seh ihn, sagt Daddy, und grimmiger als sein Ton ist nur seine Miene.
    Warum sieht er nicht mehr aus wie vorhin, Daddy? Wieso …
    Weil der Bösmüll verschwunden ist, Dummkopf. Und darin liegt eine Ironie des Schicksals, die selbst einem schwer ge prüften Zehnjährigen auffallen muss, zumindest einem so intelligenten wie Scott: Seit der arme Paul tot vor ihnen liegt – mit herausgeblasenem Gehirn an einen Stützpfeiler ge kettet –, hat Daddy nie vernünftiger ausgesehen oder gespro chen. Und wenn sonst jemand ihn so sieht, heißt's für mich marsch ins Staatsgefängnis Waynesburg oder in die beschis sene Irrenanstalt droben in Reedville. Wenn ich nicht vorher gelyncht werde. Wir müssen ihn begraben, aber das wird 'ne
    verdammt mühsame Arbeit, solang der Boden steinhart gefro
    ren ist.
    Ich nehm ihn mit, Daddy, sagt Scott.
    Wie willst du das schaffen? Du hast's nicht gekonnt, als er gelebt hat!
    Scott fehlt die Sprache, um erklären zu können, dass er jetzt wieder einfach hinübergehen kann, gekleidet in seinen üblichen Sachen. Das Ambossgewicht, das Tresorgewicht, das Konzertflügelgewicht ist aus dem an den Pfeiler geketteten Körper verschwunden; das dort angekettete Ding wiegt nicht mehr als die grüne Hülse, die man von einem Maiskolben ab streift. Scott sagt einfach nur: Jetzt kann ich's.
    Du bist mir ein kleiner Prahlhans, sagt Daddy, aber er lehnt das Jagdgewehr an den Tisch mit der Druckerpresse. Er fährt sich mit einer Hand durch die Haare und seufzt. Zum ersten Mal wirkt er auf Scott wie ein Mann, der eines Tages alt wer den könnte.
    Also los, Scott, versuch's meinetwegen. Ein Versuch kann nich schaden.
    Aber nachdem nun keine wirkliche Gefahr mehr besteht, geniert Scott sich.
    Dreh dich um, Daddy.
    WAS zum TEUFEL sagst du da?
    Daddys Ton droht Prügel an, aber diesmal weicht Scott nicht zurück. Das Mitnehmen ist nicht der Teil, der ihn stört; dabei kann Daddy ruhig zusehen. Aber er geniert sich bei der Vorstel lung, beobachtet zu werden, wenn er seinen toten Bruder in die Arme nimmt. Er wird weinen müssen. Er fühlt die Tränen bereits herannahen wie Regen an einem Spätfrühlingstag, der wie ein Vorbote des Sommers schon sehr heiß gewesen ist.
    Bitte, sagte er mit seiner versöhnlichsten Stimme. Bitte, Daddy.
    Einen Augenblick lang rechnet Scott fest damit, dass sein Vater durch den Keller, über dessen Wände sein dreifacher Schatten huschen wird, auf seinen überlebenden Sohn zu rennt und ihm mit dem Handrücken ins Gesicht schlägt – ihn mit diesem Schlag vielleicht in den Schoß seines toten großen

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