Love

Brust. Drüben im Haus hatte Lisey etwas weit Stärkeres (aber bestimmt nicht Frischeres) als Scotts Kopfschmerztabletten: Vicodin von Amandas vorletztem Selbstverstümmelungsversuch. Auch Darla hatte etwas davon, und Canty hat te Manda-Bunnys Fläschchen mit Percocet. Ohne wirklich darüber zu diskutieren, waren sie sich alle einig gewesen, dass Amanda keinen Zugang zu hartem Stoff haben durfte: Sie könnte irgendwann alles ätzend finden und beschließen, das ganze Zeug auf einmal zu schlucken. Sich einen Tequila Sunrise zu verschaffen, einen Sonnenuntergang im siebten Himmel.
    Lisey würde bald einen Versuch starten, das Haus – und das Vicodin – zu erreichen, aber nicht sofort. Mit einem halb vol len Glas Wasser in einer Hand und dem durchgebluteten gel ben Häkelquadrat in der anderen ging sie in demselben breit beinigen Gang langsam zu der staubigen Bücherschlange hinüber und setzte sich dort hin, um abzuwarten, was drei überalterte Excedrin gegen ihre Schmerzen bewirken würden. Und während sie wartete, kehrten ihre Gedanken wieder zu der Nacht zurück, in der sie ihn im Gästezimmer angetroffen hatte – körperlich anwesend, aber geistig weggetreten .
    Ich habe immer wieder daran gedacht, dass wir auf uns allein angewiesen sind. Dieser Wind, dieser verdammte Wind
    23 Sie horcht auf diesen Killerwind, der ums Haus heult, hört Graupelschauer an die Scheiben trommeln und weiß, dass sie auf sich selbst angewiesen sind – dass sie allein zu rechtkommen muss. Und während sie nach draußen horcht, kehren ihre Gedanken wieder zu jener Nacht in New Hampshire zurück, in der die Stunde ungewiss war und der Mond die Schatten mit seinem unsteten Licht zu necken schien. Sie erinnert sich, wie sie den Mund geöffnet hat, um zu fragen, ob er das wirklich kann, ob er sie wirklich mitnehmen kann, und ihn dann wieder geschlossen hat, als ihr klar wurde, dass man solche Fragen nur stellte, wenn man Zeit schinden wollte … und Zeit versuchte man doch nur zu schinden, wenn man nicht auf der gleichen Seite stand?
    Klar stehen wir auf der gleichen Seite, hat sie sich damals gesagt. Das sollten wir, wenn wir heiraten wollen .
    Aber es gab eine Frage, die gestellt werden musste, denn in jener Nacht im Antlers war die Reihe an ihr, vom Dielentisch zu springen. »Was, wenn es dort drüben Nacht ist? Du hast gesagt, dass dort drüben nachts schlimme Wesen unterwegs sind.«
    Er lächelte beruhigend. »Es ist nicht Nacht, Schatz.«
    »Woher weißt du das?«
    Er schüttelte noch immer lächelnd den Kopf. »Ich weiß es einfach. Wie der Hund eines Jungen weiß, dass es Zeit ist, beim Briefkasten zu warten, weil der Schulbus gleich vorbei kommen wird. Dort drüben ist es kurz vor Sonnenuntergang. Das ist es oft.«
    Das verstand Lisey nicht, aber sie fragte nicht weiter – jede Frage zog immer neue nach sich, das wusste sie aus Erfah rung, und die Zeit für Fragen war vorbei. Wenn sie ihm wirk lich vertrauen wollte, war die Zeit für Fragen vorbei. Deshalb hatte sie tief durchgeatmet und gesagt: »Also gut, dies sind deine vorgezogenen Flitterwochen. Nimm mich irgendwohin mit, wo ich nicht in New Hampshire bin. Diesmal will ich mich gründlich umsehen.«
    Er drückte seine halb gerauchte Zigarette im Aschenbecher aus und fasste sie leicht an den Oberarmen, wobei seine Augen vor Aufregung und guter Laune glänzten – wie genau sie sich an das Gefühl seiner Finger auf ihrer Haut erinnern kann! »Du hast wirklich Mumm, kleine Lisey – das soll die Welt erfahren. Halt dich fest und lass uns sehen, was geschieht.«
    Und er hat mich mitgenommen, denkt Lisey, als sie jetzt im Gästezimmer sitzt und die wächsern kühle Hand der atmen den Männerpuppe im Schaukelstuhl hält. Aber sie fühlt das Lächeln auf ihrem Gesicht – kleine Lisey, großes Lächeln – und fragt sich, wie lange es schon da ist. Er hat mich mit genommen, ich weiß, dass er es getan hat. Aber das war vor siebzehn Jahren, als wir beide jung und tapfer waren, als er ganz und gar anwesend war. Jetzt ist er fort.
    Aber sein Körper ist noch hier. Heißt das, dass er nicht mehr körperlich hinübergehen kann, wie er es als Kind getan hat? Und wie er es noch manchmal getan hat, seit Lisey ihn kennt? Wie er es in Nashville im Krankenhaus getan hat, als die Schwester ihn nicht finden konnte?
    Dann spürt Lisey, dass seine Hand ihre etwas fester um fasst. Dieser Druck ist kaum merklich, aber Scott ist ihr Ge liebter, deshalb spürt sie ihn trotzdem. Seine Augen oberhalb