Love
entzünde tes orangerotes Gesicht durch die Umrisse von Bäumen und Kreuzen in unregelmäßig gezackte Segmente zerteilt. So vie le Kreuze. Lisey betrachtet etwas, was beinahe ein ländlicher Friedhof sein könnte. Wie das Grabkreuz, das Scott für sei nen Bruder Paul angefertigt hat, scheinen diese Kreuze aus Holz zu sein, und obwohl manche ziemlich groß und einige reich verziert sind, sehen alle handgefertigt aus, und viele sind fast verfallen. Es gibt auch oben abgerundete Grabmale, von denen einige aus Stein sein könnten, aber in der herab sinkenden Abenddämmerung kann Lisey das nicht genau erkennen. Das Licht des aufgehenden Mondes ist eher schäd lich als nützlich, weil es alles auf dem Friedhof von hinten beleuchtet.
Warum hat er Paul anderswo begraben, wenn es hier einen Friedhof gibt? Weil er mit der Bösmülligkeit im Leib gestorben ist?
Sie weiß es nicht; es kümmert sie auch nicht. Ihr ist nur Scott wichtig. Er sitzt auf einer der Bänke wie ein Zuschauer bei einer schlecht besuchten Sportveranstaltung, und wenn sie etwas unternehmen will, muss sie tätig werden. »Halt die Armbrust gespannt«, hätte Good Ma gesagt – eine Formulie rung, die sie aus dem Pool gefischt hatte.
Lisey lässt den Friedhof mit seinen rustikalen Holzkreuzen hinter sich. Sie geht weiter am Strand entlang in Richtung der Steinbank, auf der ihr Mann sitzt. Der Sand ist fest und kit zelt ein wenig. Dieses Gefühl an ihren Fußsohlen und Fersen macht sie darauf aufmerksam, dass sie barfuß ist. Sie trägt weiter ihr Nachthemd und zwei Lagen Unterwäsche, aber ihre Hausschuhe sind nicht mitgekommen. Der Sand unter ihren Sohlen fühlt sich beängstigend und angenehm zugleich an. Und auch seltsam vertraut, und als Lisey die erste der Stein bänke erreicht, stellt sie die Verbindung her. Als Kind hatte sie einen wiederkehrenden Traum, in dem sie für alle unsichtbar auf einem fliegenden Teppich durchs Haus flitzte. Aus diesen Träumen erwachte sie amüsiert, zu Tode erschrocken und mit schweißnassen Haaren. Der Sand erinnert in seiner Textur an den fliegenden Teppich … als könnte sie fliegen, statt lediglich zu springen, wenn sie jetzt die Knie beugen und in die Höhe schnellen würde.
Ich würde wie eine Libelle über den Pool hinwegzischen, vielleicht die Zehen ins Wasser hängen lassen … zu der Stelle hinüberflitzen, wo er in einen Bach abfließt … dann weiter bis dorthin, wo der Bach zu einem Fluss anschwillt … tief aufs Wasser hinuntergehen … die von ihm aufsteigende Feuchtigkeit spüren, durch die kleinen Nebelschwaden stoßen, die wie Schleier über dem Fluss stehen, bis ich endlich das Meer erreiche … und dann … ja, weiter und weiter und immer weiter …
Sich von dieser verlockenden Vision loszureißen gehört zu den schwierigsten Dingen, die Lisey in ihrem ganzen Leben getan hat. Ihr kommt es vor, als müsste sie nach tagelanger Schwerstarbeit und nur wenigen Stunden tiefen, herrlich er holsamen Schlafs versuchen aufzustehen. Sie bemerkt, dass sie nicht mehr über den Sand geht, sondern im dritten Rang über dem kleinen Strand auf einer Bank sitzt, das Kinn in eine Hand stützt und übers Wasser hinausblickt. Und sie sieht, dass der Mond seinen orangeroten Schein verloren hat. Er ist jetzt buttergelb, bald wird er silbern werden.
Wie lange sitze ich schon hier?, fragt sie sich besorgt. Sie ahnt, dass nicht sonderlich viel Zeit vergangen ist – bestimmt nicht mehr als fünfzehn oder zwanzig Minuten –, aber schon das ist viel zu lange … obwohl sie die hiesigen Verhältnisse nun zweifellos versteht, nicht wahr?
Lisey fühlt, wie ihr Blick wieder von dem Pool angezogen wird – von der friedlichen Stille des Pools, in dem jetzt bei herabsinkender Dämmerung nur zwei oder drei Leute waten (darunter eine Frau, die ein großes Bündel oder ein Kind in den Armen trägt) –, und zwingt sich dazu, wegzusehen, zu den Felsgraten, die diesen Ort umgeben, und zu den Sternen aufzublicken, die in dem dunkler werdenden Blau über dem Granit und zwischen den wenigen Bäumen, die dort oben wachsen, hervortreten. Als ihre gewohnte Gemütsverfassung zurückgekehrt ist, steht Lisey auf, kehrt dem Pool den Rücken zu und sucht wieder Scott. Er ist ganz leicht zu finden. Selbst in der herabsinkenden Abenddämmerung ist das Gelb der Häkeldecke schreiend laut.
Sie geht zu ihm, steigt dabei von Rang zu Rang, als befände sie sich in einem Footballstadion. Unterwegs macht sie einen Bogen um eine der verhüllten
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