Love
Bewegung. Der Weg führte durch eine Senke, dann über einen Hügelrücken, auf dem die etwas spärlicher wachsenden Bäume von einem hellen roten Licht angestrahlt wurden. Die Sonne war also noch nicht ganz untergegangen. Gut. Und dort bimmelte die Glocke, bewegt von einer leichten Brise, die sie eben hörbar anschlug. Früher hatte sie neben der Registrierkasse in Pat's Pizza & Café in Cleaves Mills gestanden. Nicht die Art Glocke, wie man sie von Hotelrezeptionen her kannte und die man mit der Hand fläche anschlug, um ein dezentes Ding! zu erzeugen, das dann verhallte, sondern eine verkleinerte silberne Schulglocke mit Griff, die ding-a-ling machte, solange man sie hin und her schwenkte. Und der Koch Chuckie D., der in dem Jahr, in dem Lisey in Pat's Café bedient hatte, an den meisten Abenden Dienst gehabt hatte, hatte diese Glocke geliebt . Lisey wusste noch, wie sie Scott erzählt hatte, dass sie das irritierende sil berne Ding-a-ling manchmal im Traum hörte, bevor Chuckie D. losplärrte: Das Essen ist fertig, Lisey. Los, los, beeil dich! Hungrige Leute! Ja, sie hatte Scott im Bett erzählt, wie sehr sie Chuckie D.s lästiges Glöckchen hasste, im Frühjahr 1979 musste das gewesen sein, denn wenig später war die irritie rende kleine Glocke verschwunden. Lisey hatte Scott nie mit ihrem Verschwinden in Verbindung gebracht, nicht einmal, als sie das Glöckchen bei ihrem ersten Besuch hier gehört hatte – damals war zu viel passiert, war zu viel Verrücktes auf sie eingestürmt –, und er hatte nie ein Wort darüber verloren. Als sie Scott dann im Jahr 1996 hier gesucht hatte, hatte sie Chuckie D.s vor langer Zeit verschwundene Glocke erneut gehört und diesmal
(beeil dich hungrige Leute Essen ist fertig)
sofort wiedererkannt. Und das Ganze war auf abstrus ver rückte Weise logisch gewesen. Schließlich war Scott Landon der Mann gewesen, der den Auburn Novelty Shop für das Ha-ha-Zentrum des Universums gehalten hatte. Weshalb hätte er es also nicht für sehr witzig halten sollen, das Glöckchen zu klauen, das seine Freundin so ärgerte, und nach Boo'ya-Mond zu bringen? Um es – hirun-jetz! – neben dem Weg auf zuhängen, damit der Wind es läuten konnte?
Letztes Mal war Blut daran, flüsterte die tiefe Stimme der Erinnerung. 1996 war Blut daran.
Ja, und es hatte sie erschreckt, aber sie war trotzdem weitergegangen … und jetzt war das Blut verschwunden. Das Wetter, das Pauls Namen auf dem Querbrett des Grabkreuzes hatte verblassen lassen, hatte auch die Glocke sauber gewaschen. Und die kräftige Schnur, an der Scott sie vor siebenundzwanzig Jahren aufgehängt hatte (wenn man voraussetzte, dass die Zeit hier gleich schnell ablief), war fast durchgewetzt. Bald würde die Glocke auf den Weg fallen; dann würde der Scherz zu Ende sein.
Und jetzt sprach ihre Intuition so eindringlich zu Lisey wie nie zuvor in ihrem Leben – nicht mit Worten, sondern durch ein Bild. Sie sah sich den silbernen Spaten am Fuß des Glo cken-Baums niederlegen, und das tat sie, ohne zu zögern oder zu fragen. Sie fragte sich auch nicht, warum; er wirkte allzu perfekt, wie er da am Fuße des alten knorrigen Baums lag: sil bernes Glöckchen oben, silberner Spaten unten. Und wieso das perfekt sein sollte … da hätte sie sich ebenso gut fragen können, warum Boo'ya-Mond überhaupt existierte. Sie hatte geglaubt, der Spaten wäre diesmal zu ihrem Schutz bestimmt. Anscheinend nicht. Sie betrachtete ihn noch einmal (mehr Zeit konnte sie nicht erübrigen), dann ging sie weiter.
8 Der Weg führte sie in eine weitere bewaldete Senke hinunter. Hier war das kräftige Spätabendlicht zu einem schwä cher werdenden orangeroten Widerschein verblasst, und in den dunkleren Wäldern irgendwo vor ihr erwachte der erste Lacher, und seine grausig menschenähnliche Stimme kletterte die gläserne Wahnsinnsleiter hinauf und erzeugte eine Gänse haut auf Liseys Armen.
Beeil dich, Babylove.
»Ja, ja, natürlich.« Jetzt gesellte sich ein zweiter Lacher zu dem ersten, und obwohl sie spürte, dass ihr kalte Schauer über den Rücken lie
fen, sah sie sich noch nicht in Gefahr. Gleich dort vorn führte der Weg um einen großen grauen Felsen herum, an den sie sich so gut erinnerte. Dahinter lagen eine tiefe felsige Senke –
o ja, tief und schaurig rihiesig – und der Pool. Am Pool würde sie in Sicherheit sein. Am Pool war es unheimlich, aber auch sicher. Es war …
Lisey war sich plötzlich auf verrückte Weise sicher, dass etwas um sie
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