Love
Gestalten … aber sie kommt ihr nahe genug, um die sehr menschliche Figur unter den dünnen Schleiern zu sehen, dazu tiefe Augenhöhlen und eine Hand, die aus der Verhüllung ragt.
Es ist eine Frauenhand mit stellenweise abgeplatztem rotem Nagellack.
Ihr Herz jagt, als sie Scott erreicht, und sie fühlt sich leicht außer Atem, obwohl der Aufstieg nicht schwierig war. In der Ferne haben die Lacher angefangen, die Tonleiter hinauf- und hinunterzulachen, als lachten sie gemeinsam über ihren end losen Witz. Aus der Richtung, aus der sie gekommen ist, hört sie das unregelmäßige Bimmeln von Chuckie D.s Klingel und denkt: Das Essen ist fertig, Lisey! Los, los, beeil dich!
»Scott?«, murmelt sie, aber Scott sieht sie nicht an. Er hat nur Augen für den Pool, aus dem im Schein des aufgehenden Mondes ein überaus leichter Nebel – nur ein Ausatmen – auf zusteigen begonnen hat. Lisey gestattet sich nur einen kur zen Blick in diese Richtung, bevor sie sich wieder auf ihren Mann konzentriert. Sie hat ihre Lektion gelernt, sie weiß jetzt, dass man nicht zu lange in den Pool blicken darf. Wenigstens hofft sie das. »Scott, es wird Zeit, heimzukom men.«
Nichts. Keinerlei Reaktion. Sie erinnert sich daran, wie sie ihm unter Protest versichert hat, er wäre nicht verrückt, vom Geschichtenschreiben würde man nicht verrückt, worauf Scott geantwortet hatte: Ich hoffe, dass du auf diese Weise glücklich bleibst, kleine Lisey. Aber das war nicht eingetreten, oder? Jetzt weiß sie viel mehr. Paul Landon ist bösmüllig geworden und hat den Rest seines Lebens angekettet und tobend im Keller eines einsamen Farmhauses zugebracht. Sein jüngerer Bruder hat geheiratet und eine unzweifelhaft brillante Karriere gemacht, doch inzwischen hat er die Quit tung dafür erhalten. Im speziellen Jargon der Familie Landon ist der jüngere Bruder zum Gomer geworden.
Ein gewöhnlicher Katatoniker, denkt sie und spürt einen kalten Schauer.
»Scott?«, murmelt Lisey wieder, fast direkt in sein Ohr, und ergreift dabei seine Hände. Sie sind kühl und glatt, wächsern und schlaff. »Drück meine Hände, Scott, wenn du da drin bist und heimkommen willst.«
Quälend lange nimmt sie nichts wahr außer den Stimmen der lachenden Wesen tief im Wald und etwas näher den scho ckierenden, fast weibischen Schrei eines Vogels. Dann spürt Lisey etwas, was entweder Wunschdenken oder das leiseste Zucken seiner Finger an ihren ist.
Sie versucht darüber nachzudenken, was sie als Nächstes tun sollte, aber sicher weiß sie nur, was sie nicht tun sollte: zulassen, dass die Nacht um sie beide herum aufsteigt und sie, Lisey, von oben mit ihrem silbrigen Mondschein verwirrt, während die von unten aufsteigenden Schatten sie ertränken. Dieser Ort ist eine Falle. Sie glaubt zu wissen, dass jeder, der längere Zeit hier am Pool bleibt, ihn nie mehr verlassen kann. Sie begreift, dass man nur eine kleine Weile in ihn hinein blicken muss, um alles sehen zu können, was man will: ver lorene Geliebte, gestorbene Kinder, verpasste Gelegenheiten – alles.
Das Erstaunlichste an diesem Ort? Dass nicht viel mehr Menschen auf den Steinbänken herumlungern. Dass die Leu te hier nicht Schulter an Schulter gedrängt stehen wie Fuß ballzuschauer bei einem verschmickten Weltmeisterschafts finale.
Lisey nimmt aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung wahr und verfolgt mit ihrem Blick den Weg, der vom Strand zur Treppe führt. Sie sieht einen stämmigen Gentleman, der eine weiße Hose und ein bauschiges, ganz aufgeknöpftes weißes Hemd trägt. Eine grausige Verletzung entstellt seine linke Gesichtshälfte. Von seinem eigenartig flachen Hinterkopf stehen stahlgraue Haare ab. Er sieht sich kurz um, dann tritt er vom Weg in den Sand.
Neben ihr, mit großer Anstrengung sprechend, sagt Scott: »Verkehrsunfall.«
Liseys Herz macht einen heftigen Satz, aber sie hütet sich, zu ihm aufzusehen oder seine Hände allzu stark zu drücken, kann jedoch ein leichtes Zucken nicht vermeiden. Sie bemüht sich, möglichst unaufgeregt zu klingen, als sie fragt: »Woher weißt du das?«
Keine Antwort von Scott. Der Gentleman in dem bauschi gen weißen Hemd wirft den stumm auf den Steinbänken sit zenden Gestalten noch einen abschätzigen Blick zu; dann kehrt er ihnen den Rücken und watet in den Pool. Silberner Mondschein umrankt ihn, und Lisey muss sich erneut dazu zwingen, den Blick abzuwenden.
»Scott, woher weißt du das?«
Er zuckt mit den Schultern. Auch seine Schultern scheinen
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