Love
sitzen dort nicht. Lisey schätzt ihre Zahl auf höchstens fünfzig bis sechzig, und die meisten sind in dünne Schleier gehüllt, die wie Leichentücher aussehen. Aber wie können diese Leute sitzen, wenn sie tot sind? Will sie das überhaupt wissen?
Am Strand verteilt stehen schätzungsweise zwei Dutzend weitere Gestalten. Und einige Leute – sechs oder acht – befin den sich tatsächlich im Wasser. Sie waten schweigend umher. Als Lisey den Fuß der Treppe erreicht und weiter in Richtung Strand geht, wobei ihre nackten Füße mühelos dem von vie len anderen Füßen ausgetretenen Pfad folgen, sieht sie, wie eine Frau sich nach vorn beugt, um ihr Gesicht mit Wasser zu benetzen. Das tut sie mit den langsamen Bewegungen einer Träumenden, und Lisey erinnert sich, wie damals an dem Tag in Nashville alles in Zeitlupe abzulaufen schien, nachdem sie erkannt hatte, dass Blondie ihren Mann erschießen wollte. Auch das war wie ein Traum gewesen, obwohl es keiner war. Dies hier ist ebenfalls keiner.
Dann entdeckt sie Scott, der auf einer Steinbank neun oder zehn Reihen oberhalb des Pools sitzt. Er hat noch immer Good Mas Häkeldecke, ist aber nicht in sie gehüllt, weil sie zu warm wäre. Sie ist nur bis über die Knie gezogen; der Rest hängt ihm in Falten auf den Füßen. Lisey weiß nicht, wie die Decke gleichzeitig hier und im Haus auf dem Sugar Top Hill sein kann, und denkt: Vielleicht weil manche Dinge etwas Beson deres sind. Wie Scott etwas Besonderes ist . Und sie? Existiert zu Hause noch eine Version von Lisey Landon? Das glaubt sie nicht. Sie hält sich nicht für wichtig genug, so wichtig ist sie nicht, nicht sie, nicht die kleine Lisey. Sie glaubt, dass sie – was auch geschehen mag – ganz hier ist. Oder ganz fort, je nachdem, von welcher Welt man redet.
Sie holt Luft, um seinen Namen zu rufen, und tut es dann doch nicht. Eine starke Intuition hält sie davon ab.
Pssst, denkt sie. Pssst, kleine Lisey, jetzt
1O Jetzt musst du still sein, dachte sie jetzt wie damals im Januar 1996.
Alles war unverändert, nur sah sie es etwas besser, weil sie früher gekommen war; die Schatten in dem Felsental, das den Pool umschloss, fingen gerade erst an, nächtlich düster zu werden. Der Umriss des Pools erinnerte an die Hüften einer Frau. Am Strandende, wo die Hüften sich zur Taille hin ver engten, befand sich eine Landzunge aus feinem weißem Sand. Dort standen, räumlich weit voneinander getrennt, vier Personen – zwei Männer und zwei Frauen –, die wie gebannt über den Pool hinausblickten. Im Wasser waren ein halbes Dutzend weiterer Gestalten zu sehen. Niemand schwamm. Die meisten standen nur wadentief im Wasser; ein Mann war bis zur Taille hineingegangen. Lisey wünschte sich, sie könn te seinen Gesichtsausdruck sehen, aber dazu war sie noch zu weit entfernt. Hinter den Watenden und den Leuten am Strand – die nach Liseys Überzeugung noch nicht den Mut aufgebracht hatten, ebenfalls ins Wasser zu gehen – rag te die steile Felswand mit ihren Terrassen und Dutzenden, vielleicht Hunderten von Steinbänken auf. Dort saßen weit verteilt schätzungsweise rund zweihundert Personen. Lisey schien sich an fünfzig oder sechzig erinnern zu können; heute Abend waren es jedoch eindeutig mehr. Aber auf jeden Menschen, den sie sehen konnte, kamen mindestens vier in diesen schrecklichen
(Leichentüchern)
Verhüllungen.
Hier gibt's auch einen Friedhof. Erinnerst du dich?
»Ja«, flüsterte Lisey. Ihre Brust schmerzte wieder stark, aber sie betrachtete den Pool und erinnerte sich an Scotts zerschnittene Hand. Sie erinnerte sich auch, wie rasch er sich von dem Lungenschuss des Verrückten erholt hatte – oh, die Ärzte waren verblüfft gewesen. Auch für sie gab es ganz in der Nähe eine viel bessere Medizin als Vicodin.
»Ja«, wiederholte sie und folgte dem in Richtung Strand abfallenden Weg, diesmal jedoch mit einem betrüblichen Un terschied: Heute saß dort unten kein Scott Landon auf einer der Bänke.
Unmittelbar bevor der Weg am Strand endete, sah sie einen weiteren Pfad vom Pool aus nach links abzweigen. Als Lisey den Mond sah, wurde sie wieder fast von ihren Erinnerungen überwältigt
11 Sie sieht den Mond in einer Scharte in den massi ven Granitwänden aufgehen, die den Pool umrahmen. Dieser Mond ist aufgedunsen und gigantisch, genau wie er es da mals war, als ihr zukünftiger Mann sie aus ihrem Zimmer im Antlers nach Boo'ya-Mond gebracht hat, aber auf der weiten Fläche unterhalb der Scharte wird sein
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