Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Love

Love

Titel: Love Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
Bäume, schwenkt die Arme und versucht das Gleichgewicht zu halten. Sie hat Gelegenheit, wahrzuneh men, dass seine Nase radikal zur Seite gedrückt ist – genau wie damals Coles – und ihm ein Blutstrom aus dem Mund schießt. Dann nimmt sie rechts von sich, nicht weit von der Stelle entfernt, wo Dooley um sich schlägt und wieder auf die Beine zu kommen versucht, eine Bewegung wahr. Es ist eine ungeheure Bewegung. Einige Augenblicke lang werden die düsteren, erschreckend traurigen Gedanken, die ihren Ver stand okkupiert haben, noch düsterer und trauriger, sodass Lisey fürchtet, sie könnten sie umbringen oder in den Wahnsinn treiben. Dann verändern sie kaum merklich ihre Richtung, und während sie das tun, orientiert sich auch das Wesen knapp jenseits der Bäume um. Als Nächstes sind die vielfältigen Geräusche einer durchs Geäst brechenden Masse zu hören: das Splittern und Abknicken von Bäumen und Unter holz. Und dann ist er plötzlich da: Scotts Long Boy. Und sie begreift, dass Vergangenheit und Zukunft zu bloßen Träumen werden, sobald man den Long Boy gesehen hat. Sobald man ihn gesehen hat, gibt es nur noch, o lieber Gott, einen einzi gen Jetzt -Augenblick, in die Länge gezogen wie ein niemals endender schmerzhafter Ton.
    1O Fast bevor Lisey begriff, was geschah, und bestimmt bevor sie darauf vorbereitet war – obwohl die Vorstellung, man könnte auf ein solches Ungeheuer vorbereitet sein, lach haft war –, sah sie es plötzlich. Das gescheckte Wesen. Die lebende Verkörperung dessen, was Scott gemeint hatte, wenn er von der Bösmülligkeit gesprochen hatte.
    Was sie sah, war eine gewaltige plattierte Flanke, die an rissige Schlangenhaut erinnerte. Sie wälzte sich durch die Bäume heran, entwurzelte einige, knickte andere und schien durch einige der größten glatt hindurchzugehen. Das war na türlich unmöglich, dennoch blieb dieser Eindruck bestehen. Es gab keinen Gestank, aber ein widerliches Geräusch, ein irgendwie gutturales Puffen, und dann erschien sein schup piger Schädel, höher als die Bäume und so groß, dass er den Himmel verdeckte. Lisey sah ein Auge, ausdruckslos und doch lebendig, schwarz wie Brunnenwasser und vom Durch messer einer Doline, durchs Laub starren. Sie sah eine Öff nung im Fleisch seines sich suchend hin und her wendenden quadratischen Schädels und wusste intuitiv, dass alle Lebe wesen, die es durch diesen gewaltigen Rüssel in sich auf nahm, nicht gleich starben, sondern noch lange lebten und schrien … lebten und schrien … lebten und schrien .
    Sie selbst konnte nicht schreien. Sie war außerstande, ir gendeinen Laut hervorzubringen. Sie machte zwei Schritte rückwärts: Schritte, die ihr unnatürlich gelassen vorkamen. Der Spaten, von dessen Schaufel wieder das Blut eines Ver rückten tropfte, fiel ihr aus der Hand und blieb auf dem Weg liegen. Sie dachte: Es sieht mich … und mein Leben wird nie mehr wirklich mir gehören. Es wird nicht zulassen, dass es mir gehört.
    Sekundenlang richtete es sich auf, ein formloses, endloses Wesen mit Haarbüscheln, die in willkürlichen Klumpen aus seinen feuchten, sich hebenden und senkenden Fleischmassen sprossen, sein großes, trübe begieriges Auge auf sie gerichtet. Das erlöschende Rosa des Tages und der zunehmende Silberschein des Mondes beleuchteten den Rest dessen, was weiter schlangenartig im Unterholz lag.
    Dann wandte sein Auge sich von Lisey ab und der schrei enden, um sich schlagenden Gestalt zu, die sich von den Ran ken zu befreien versuchte, in die sie abseits des Weges geraten war: Jim Dooley, der aus seinem zerschmetterten Mund, der gebrochenen Nase und einem geschwollenen Auge blutete; Jim Dooley, der sogar in den Haaren Blut hatte. Dooley sah, was ihn betrachtete, und hörte abrupt zu schreien auf. Lisey sah, wie er versuchte, sich das gesunde Auge zuzuhalten, sah seine Hände herabsinken, wusste, dass er alle Kraft eingebüßt hatte, und empfand trotz allem sekundenlang Mitleid mit ihm: in einem Augenblick der Empathie, der in seiner Heftig keit grausig und in seiner menschlichen Harmonie fast un erträglich war. In diesem Moment hätte sie vielleicht alles zurückgenommen, wenn es nur ihren eigenen Tod bedeutet hätte, aber sie dachte an Amanda und versuchte, ihr Herz und ihren Verstand, die gleichermaßen entsetzt waren, zu stählen.
    Das gewaltige, scheinbar zwischen den Bäumen feststeckende Wesen reckte fast behutsam den Kopf vor und nahm Dooley in sich auf. Das Fleisch um die Öffnung seiner

Weitere Kostenlose Bücher