Love
mich komisch anzusehen, aus den Augenwinkeln heraus. Ich warte immer darauf, dass er mich anbrüllt oder sogar sein altes Taschenmesser rausholt und mich schneidet. Das hat er schon lange nicht mehr getan, aber ich glaube, dass es fast eine Erleich terung wäre. Das würde das Bösmüllige nicht aus mir rauslassen, weil’s da keins gibt – das wahre Bösmüllige, nicht bloß Daddys Fantasien davon, habe ich gesehen, als Paul im Keller angekettet war –, und davon habe ich nichts in mir. Aber er hat etwas Schlimmes in sich , das durch Schneiden nicht weggeht. Nicht diesmal, obwohl er’s oft genug versucht hat. Das weiß ich. Ich habe die blutigen Hemden und Unterhosen in der Wäsche gesehen. Auch im Müll. Wenn es ihm helfen würde, mich zu schneiden, würde ich es ihn tun lassen, weil ich ihn noch immer liebe. Mehr denn je, seit wir nur noch zu zweit sind. Mehr denn je, seit wir gemeinsam die Sache mit Paul durchgemacht haben. Wie das Bösmüllige ist diese Liebe eine Art Verhängnis. »Das Bösmüllige ist stark«, hat er gesagt.
Aber er will mich nicht schneiden.
Als ich eines Tages aus dem Schuppen zurückkomme, in dem ich eine Weile gesessen habe, um an Paul zu denken – an all den Spaß, den wir beim Spielen auf der alten Farm hatten –, packt Daddy mich und schüt telt mich durch. »Du warst dort drüben!« , brüllt er mir ins Gesicht. Und ich kann sehen, dass er noch viel kränker ist, als ich immer dachte. So schlimm war’s noch nie. »Warum gehst du dort rüber? Was tust du dort drüben? Mit wem redest du? Was planst du?« Die ganze Zeit rüttelt und schüttelt er mich, und die Welt scheint von einer Seite zur anderen zu kippen. Dann schlägt mein Kopf an den Türrahmen, und ich sehe Sterne und gehe mit der Küchenhitze von vorn und der Winterkälte im Rücken auf der Schwelle zu Boden.
»Nein, Daddy«, sage ich. »Ich bin nirgends hingegangen. Ich war nur …«
Er beugt sich über mich, seine Hände auf die Knie gestützt, sein Gesicht dicht über meinem, seine Haut blass bis auf zwei hektisch rote Flecken auf den Wangen, und ich sehe, wie seine Augen hin und her, hin und her zucken, und weiß, dass vernünftig und er sich nicht mal mehr Briefe schreiben. Und ich denke daran, dass Paul gesagt hat: Scott, trau dich bloß nicht, Daddy zu widersprechen, wenn er unvernünftig ist.
»Erzähl mir nicht, dass du nirgends warst, du verlogener kleiner Dreckser, ich bin ÜBERALL IN DIESEM GOTTVERDAMMTEN HAUS GE WESEN! «
Ich überlege, ob ich sagen soll, dass ich im Schuppen war, aber ich weiß, dass das alles nicht besser, sondern nur noch schlimmer machen würde. Ich denke daran, dass Paul gesagt hat, dass man ihm nicht wider sprechen darf, wenn er unvernünftig ist, wenn er sich schlechter fühlt, und weil ich weiß, wo ich seiner Meinung nach gewesen bin, sage ich ja, Daddy, ja, ich war in Boo’ya-Mond, aber nur, um Blumen auf Pauls Grab zu legen. Und es wirkt! Zumindest vorläufig. Er entspannt sich. Er er greift sogar meine Hand, zieht mich hoch und klopft mich dann ab, als hätte ich Schnee oder Schmutz oder sonst was an mir. Ich habe nichts an mir, aber vielleicht sieht er etwas. Wer weiß.
Er sagt: »Ist’s in Ordnung, Scott? Ist sein Grab in Ordnung? Nichts dran gewesen – oder gar an ihm?«
»Alles bestens, Daddy«, sage ich.
Er sagt: »In der Arbeit gibt’s Nazis, Scooter, hab ich dir das schon erzählt? Bestimmt hab ich’s erzählt. Sie beten Hitler im Keller an. Sie haben eine kleine Porzellanbüste des Mistkerls. Sie glauben, dass ich das nicht weiß.«
Ich bin erst zehn, aber ich weiß, dass Hitler seit Ende des Zweiten Weltkriegs mausetot ist. Ich weiß auch, dass bei U.S. Gyppum niemand auch nur eine Büste von ihm im Keller anbetet. Und drittens weiß ich, dass ich Daddy nicht widersprechen darf, wenn er bösmüllig ist, deshalb frage ich: »Was willst du dagegen tun?«
Er beugt sich ganz nah zu mir herüber, und ich denke, dass er mich diesmal bestimmt schlagen oder mindestens wieder schütteln wird. Aber stattdessen starrt er mich durchdringend an (ich habe seine Augen noch nie so groß oder so dunkel gesehen), dann greift er sich ans Ohr. »Was ist das, Scooter? Was hab ich da in den Fingern, alter Scoot?«
»Dein Ohr, Daddy«, sage ich.
Er nickt, während er weiter sein Ohr festhält und mich mit seinem Blick fixiert. Selbst nach all den Jahren sehe ich diese Augen manchmal noch im Traum. »Ich lass es auf den Boden gedrückt«, sagt er. »Und wenn’s so weit ist
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