Love
… manchmal eine Geschich te. Nicht wahr, Schatz?«
Mit ihm zu reden kam ihr richtig vor. Weil er noch immer hier war. Obwohl die Computer nicht mehr da waren, die Mö bel, die schicke schwedische Stereoanlage, die Karteischränke voller Manuskripte, die Stapel mit Fahnen (eigene und von Freunden und Bewunderern zugesandte) und die Bücher schlange … obwohl alle diese Dinge inzwischen fehlten, spür te sie weiter Scotts Anwesenheit. Natürlich spürte sie die. Weil er noch nicht ausgeredet hatte. Er hatte noch eine Geschichte zu erzählen.
Liseys Geschichte.
Sie glaubte zu wissen, um welche es sich handelte, denn es gab nur eine, die er nie beendet hatte.
Sie berührte einen der auf dem Teppichboden angetrockne ten Blutflecken und dachte an die Argumente gegen geistige Umnachtung, die mit scharrendem Geräusch wegfielen. Sie dachte daran, wie es unter dem Lecker-Baum gewesen war: wie in einer anderen Welt, die allein ihnen gehörte. Sie dach te an die Bösmüll-Leute, die Blut-Bool-Leute. Sie dachte dar an, wie Jim Dooley verstummt war, als er den Long Boy er blickt hatte, und wie seine Hände herabgesunken waren. Weil seine Arme jegliche Kraft verloren hatten. Das bewirkte der Anblick des Bösmülligen, wenn es den Blick des Betrachters erwiderte.
»Scott«, sagte sie. »Schatz, ich höre.«
Es gab keine Antwort … außer der, die Lisey sich selbst gab. Die Kleinstadt hieß Anarene. Sam dem Löwen gehörte der Billardsalon. Und das Kino. Und das Restaurant, in dem die Jukebox anscheinend ausschließlich Hank Williams spielte.
Irgendwo in dem lang gestreckten leeren Raum schien etwas zustimmend zu seufzen. Möglicherweise bildete sie sich das auch nur ein. Jedenfalls wurde es Zeit. Lisey wusste noch immer nicht genau, wonach sie Ausschau hielt, aber sie traute sich zu, es zu erkennen, wenn sie es sah – sie würde es bestimmt erkennen, wenn Scott es für sie zurückgelassen hatte –, und es wurde Zeit, sich auf die Suche danach zu machen. Weil sie nicht lange so leben wollte. Das konnte sie nicht.
Sie drückte auf PLAY , und Hank Williams' müde, fröhliche Stimme begann zu singen.
»Goodbye Joe, me gotta g o Me-oh-my-oh . Me gotta go pole the pirogu e Down the Bayou … «
SUWAS , Babylove, dachte sie und schloss die Augen. Sekun denlang war die Musik noch da, aber hohl und ach so fern, nicht anders als Musik, die einen langen Korridor entlang hallte oder aus den Tiefen einer Höhle drang. Dann nahm sie trotz geschlossener Lider rötlichen Sonnenschein wahr, und die Lufttemperatur fiel schlagartig um fünfzehn, wenn nicht gar zwanzig Grad. Eine kühle Brise, köstlich mit Blütendüften angereichert, liebkoste ihre Haut und blies die klebrigen Haa re von ihren Schläfen zurück.
Lisey öffnete die Augen in Boo'ya-Mond.
1O Sie saß weiter mit gekreuzten Beinen da, jetzt aller dings am Rande des Weges, der in der einen Richtung den Lupinenhügel hinunter-, in der anderen unter die Sweetheart-Bäume führte. Hier war sie schon einmal gewesen; genau zu dieser Stelle hatte ihr späterer Ehemann sie gebracht, weil er ihr etwas zeigen wollte.
Lisey stand auf, strich sich ihre verschwitzten Haare aus dem Gesicht und genoss die Brise. Die Süße der vielfältigen Düfte, die sie herantrug – ja, natürlich –, aber noch mehr ihre Kühle. Es schien später Nachmittag zu sein, und die Tempe ratur lag bei idealen dreiundzwanzig Grad. Sie konnte Vögel hören, den Stimmen nach ganz gewöhnliche Vögel – auf jeden Fall Meisen und Rotkehlchen, bestimmt auch Finken und vielleicht zur Abrundung eine Lerche –, aber keine schrecklichen Lacher in den Wäldern. Für die war es vermut lich noch zu früh. Auch von dem Long Boy war nichts zu spü ren, und das war die beste Nachricht überhaupt.
Sie wandte sich den Bäumen zu und drehte sich auf den Absätzen in einem langsamen Halbkreis. Sie suchte nicht das Grabkreuz, denn daran hatte sich Dooley ja ein Stück in den Arm gerammt und es anschließend weggeworfen. Es war der Baum, den sie suchte: den einen, der kurz vor den beiden an deren links des Weges stand …
»Nein, das stimmt nicht«, murmelte Lisey. »Sie standen auf beiden Seiten des Weges. Wie Soldaten, die den Weg in den Wald bewachen.«
Dann sah sie die beiden plötzlich. Und einen dritten, der etwas vor dem linken stand. Dieser dritte Baum war am größ ten; auf seinem Stamm wucherte so dichtes Moos, dass es wie ein grüner Pelz aussah. An seinem Fuß war das Erdreich noch immer leicht eingesunken.
Weitere Kostenlose Bücher