Love
…« Er krümmt den Zeigefinger, als würde er schie ßen. »Jeden einzelnen dieser Mistkerle, Scooter. Jeden verschmick ten Nazi in der Firma.« Vielleicht hätte er’s wirklich getan. Mein Vater, der in zweifelhaftem Ruhmesglanz abtritt. Vielleicht hätte es eine von diesen Schlagzeilen gegeben – EINSIEDLER AUS PENNSYLVANIA LÄUFT AMOK, ERSCHIESST NEUN KOLLEGEN UND SICH SELBST, TATMOTIV UNKLAR –, aber bevor er dazu kommt, erwischt das Bösmüllige ihn auf andere Weise.
Der Februar war klar und kalt, aber im März ändert sich das Wetter, und Daddy verändert sich mit ihm. Als die Temperaturen steigen und der Himmel sich bewölkt und der erste mit Schnee durchsetzte Frühjahrs-regen fällt, wird er mürrisch und schweigsam. Er hört auf, sich zu rasieren, dann duscht er nicht mehr, dann kocht er nicht mehr für uns. Irgendwann, vermutlich im zweiten Monatsdrittel, merke ich, dass aus den drei freien Tagen, die er als Schichtarbeiter manchmal bekommt, vier geworden sind … dann fünf … dann sechs … Schließlich frage ich ihn, wann er wieder arbeiten gehen will. Ich fürchte mich davor, ihn zu fragen, weil er jetzt die meiste Zeit oben in seinem Zimmer im Bett oder unten auf dem Sofa liegt und auf WWVA aus Wheeling, West Virginia, Countrymusik hört. Hier wie dort spricht er kaum jemals mit mir, und ich sehe seine Augen jetzt ständig hin und her zucken, während er Ausschau nach ihnen hält – den Bösmüll-Leuten, den Blut-Bool-Leuten. Deshalb … nein , ich will ihn nicht fragen, aber ich muss es tun, denn was soll aus uns werden, wenn er nicht wieder arbeiten geht? Zehn ist alt genug, um zu wissen, dass unsere Welt sich verändern wird, wenn kein Geld mehr reinkommt.
»Du willst wissen, wann ich wieder arbeiten gehe«, sagt er in nach denklichem Ton. Während er über und über stoppelbärtig auf dem Sofa liegt. Während er in einem alten Troyer und einer Cordhose, aus der seine nackten Füße ragen, daliegt. Während er zuhört, wie Red Sovine im Radio »Giddyup-Go« singt.
»Ja, Daddy.«
Er stützt sich auf einen Ellbogen und sieht mich an, und dabei merke ich, dass er weggetreten ist. Schlimmer noch, dass sich in ihm etwas ver birgt, das stärker wird und scheinbar darauf wartet, ausbrechen zu kön nen. »Du willst wissen . Wann . Ich. Wieder. Arbeiten gehe .«
»Das ist wahrscheinlich deine Sache«, sage ich. »Ich bin eigentlich nur reingekommen, um zu fragen, ob ich den Kaffee aufsetzen soll.«
Er packt meinen Arm, und am Abend danach sehe ich dunkelblaue Flecken, wo seine Finger sich eingegraben haben. Vier dunkelblaue Flecken in Form seiner Finger. »Willst wissen . Wann . Ich. Dorthin gehe.« Er lässt mich los, setzt sich auf. Seine Augen sind größer als je zuvor und halten keine Sekunde still. Sie zittern und zucken in ihren Höhlen. » Dort gehe ich nie mehr hin, Scott. Dieser Laden ist erledigt . Dieser Laden ist in die Luft gejagt. Weißt du denn überhaupt nichts, du lahmarschiger kleiner Drecksack?« Er starrt auf den schmutzigen Wohnzimmerteppich hinunter. Im Radio wird Red Sovine von Ferlin Husky abgelöst. Dann sieht Daddy wieder auf, und er ist Daddy, und er sagt etwas, was mir fast das Herz bricht. »Du bist vielleicht dumm, Scooter, aber du bist tapfer. Du bist mein tapferer Junge. Ich lass nicht zu, dass es dir was tut.«
Dann lässt er sich aufs Sofa zurücksinken und dreht sich mit dem Gesicht zur Wand und knurrt, dass ich ihn nicht mehr stören soll, weil er ein Nickerchen machen will.
In dieser Nacht wache ich auf, weil ein Graupelschauer ans Fenster prasselt, und er sitzt auf meiner Bettkante, lächelt auf mich herab. Nur ist es nicht er, der da lächelt. In seinem Blick ist fast nichts außer dem Bösmülligen zu erkennen. »Daddy?«, sage ich, aber er antwortet nichts. Ich denke erschrocken: Er wird mich umbringen. Mir die Hände um den Hals legen und mich erwürgen, und alles, was wir durchgemacht haben, die ganze Sache mit Paul ist dann umsonst gewesen.
Aber stattdessen sagt er mit erstickter Stimme: »Schlaf wei’er«, und steht von der Bettkante auf und stakst auf seltsam ruckartige Weise hinaus – das Kinn vorgereckt und mit dem Arsch wackelnd, als würde er einen Drillsergeanten bei einer Parade oder so spielen. Einige Sekunden später höre ich ein grässlich fleischiges Klatschen und weiß, dass er die Treppe runtergefallen ist, sich vielleicht sogar selbst runtergestürzt hat, und liege eine Zeit lang da, ohne aufstehen zu können, hoffe, dass er tot
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