Love
ist, hoffe, dass er’s nicht ist, frage mich, was ich tun soll, wenn er’s ist, wer sich dann um mich kümmert, mache mir nichts daraus, weiß nicht, worauf ich am meisten hoffen soll. Ein Teil meines Ichs hofft sogar, dass er die Sache zu Ende bringen, dass er zurückkommen und mich umbringen wird, dass er die Sache zu Ende bringen und mich von dem Grauen erlösen wird, in diesem Haus leben zu müssen. Schließlich rufe ich: »Daddy? Alles in Ordnung mit dir?«
Lange Zeit kommt keine Antwort. Ich liege da, horche auf den Graupelschauer und denke: Er ist tot, bestimmt, mein Daddy ist tot, ich bin hier allein , und dann brüllt er aus der Dunkelheit von unten herauf: »Ja, alles okay! Halt’s Maul, du kleiner Scheißer! Halt’s Maul, oder willst du, dass das Ding in der Wand dich hört und rauskommt und uns beide lebend auffrisst? Oder willst du, dass es in dich reinkommt, wie’s in Paul rein
gekommen ist?«
Dazu sage ich nichts, sondern liege nur zitternd da.
»Antworte gefälligst!«, plärrt er. »Antworte, Dummie, sonst komm
ich rauf und sorg dafür, dass es dir leidtut!«
Aber ich kann nicht, ich bin zu verängstigt, um zu antworten, meine Zunge ist bloß noch ein winziges Stück Trockenfleisch, das auf der Sohle meines Mundes liegt. Ich weine auch nicht. Sogar dazu bin ich zu ver ängstigt. Ich liege einfach nur da und warte darauf, dass er raufkommt und mir wehtut. Oder mich wie einen Hund erschlägt.
Nach einer Weile, die mir sehr lang vorkommt – mindestens eine Stun de, obwohl es bestimmt nicht mehr als ein paar Minuten waren –, höre ich ihn dann etwas murmeln, was wie Scheiße, ich blute noch immer oder Scheiße, es graupelt noch immer klingt. Was es auch ist, es entfernt sich von der Treppe in Richtung Wohnzimmer, und ich weiß, dass er sich dort aufs Sofa legen und einschlafen wird. Morgen früh wird er entweder auf wachen oder nicht, jedenfalls ist er für heute Nacht mit mir fertig. Aber ich habe weiter Angst. Ich fürchte mich, weil es ein Ding gibt. Ich glau be nicht, dass es in der Wand lebt, aber es gibt ein Ding. Es hat Paul erwischt, und es wird wahrscheinlich meinen Daddy erwischen, und dann bin ich dran. Darüber habe ich oft nachgedacht, Lisey.
13 Auf ihrem Platz unter dem Sweetheart-Baum – in diesem Moment mit dem Rücken an dem Stamm gelehnt – sah Lisey auf, fast so erschrocken, als hätte Scotts Geist sie mit Namen gerufen. In gewisser Weise war genau das passiert, vermutete sie, und weshalb sollte sie das eigentlich überra schen? Natürlich sprach er mit ihr, mit ihr und sonst niemandem. Dies war schließlich ihre Geschichte, Liseys Geschichte, und obwohl sie eher langsam las, hatte sie schon ein Drittel der handgeschriebenen Notizbuchseiten bewältigt. Das war gut. Boo'ya-Mond war ein wundervoller Ort, aber nur bei Tageslicht.
Sie blickte hinab auf sein letztes Manuskript – seine letzte Erzählung – und staunte erneut darüber, dass er diese Kind heit überlebt hatte. Ihr fiel auf, dass Scott nur in die Vergan genheitsform gewechselt war, als er sie direkt angesprochen hatte, hier in ihrer Gegenwart. Sie lächelte darüber und las dann weiter, wobei sie sich überlegte, wenn sie einen Wunsch frei hätte, würde sie sich wünschen, auf ihrem höchst hypo thetischen fliegenden Teppich aus einem Mehlsack zu diesem einsamen kleinen Jungen fliegen zu können, und sei es nur, um ihm ins Ohr zu flüstern, dass dieser Albtraum eines Tages enden wird. Oder zumindest jener Teil davon.
14 Ich habe viel darüber nachgedacht, Lisey, und bin zu zwei Schlussfolgerungen gelangt. Erstens: Was immer Paul erwischt hat, war real und irgendeine Art besitzergreifendes Wesen, das unter Umstän den eine völlig prosaische Grundlage hatte, vielleicht sogar virologisch oder bakteriell. Zweitens: Es war nicht der Long Boy. Denn jenes Ding hat keine Ähnlichkeit mit irgendetwas , was wir begreifen können. Es ist sein eigenes Ding, über das man besser überhaupt nicht nachdenkt. Niemals.
Jedenfalls schläft unser Held, der kleine Scott Landon, zuletzt wieder ein, und in diesem Farmhaus draußen auf dem Lande in Pennsylvania gehen die Dinge noch ein paar Tage lang in gewohnter Manier wei ter, indem Daddy wie ein reifer und übel riechender Käse auf dem Sofa liegt und Scott die Mahlzeiten kocht und das Geschirr spült (nur sagt er »Geschier spülln«) und Graupelschauer gegen die Scheiben prasseln und Countrymusik von WWVA das Haus erfüllt: Donna Fargo, Waylon Jennings, Johnny Cash,
Weitere Kostenlose Bücher