Love
ihren Fingern, und als sie sich dann bückte, fiel ihr Blick erneut auf die drei aufgestapelten Kartons mit der überschwänglichen Botschaft, die mit schwarzem Filzstift auf ihre Seiten gekritzelt war: SCOTT! DIE FRÜHEN JAHRE! Der oberste Karton hatte einmal Gilby's Gin enthalten, und seine Klappen waren nicht zugeklebt, sondern nur zusammenge steckt. Lisey wischte den Staub ab, staunte darüber, wie dick er war, und über die Erkenntnis, dass die letzten Hände, die diesen Karton berührt hatten – die ihn gefüllt und seine Klap pen gefaltet und ihn auf die anderen gestellt hatten –, jetzt ebenfalls gefaltet unter der Erde lagen.
Der Karton war voller Papier. Manuskripte, wie Lisey vermutete. Der Titel auf der leicht vergilbten obersten Seite war in Versalien geschrieben, unterstrichen und zentriert. Darunter stand Scotts Name, ebenfalls zentriert. Alles das er kannte sie wieder, wie sie sein Lächeln wiedererkannt hätte – dies war sein Präsentationsstil gewesen, als sie ihn als jun gen Mann kennengelernt hatte, und er hatte nie etwas daran geändert. Was sie nicht kannte, war der Titel dieses Manu skripts:
IKE KEHRT HEI M Scott Lando n
War das ein Roman? Eine Kurzgeschichte? Nur durch einen Blick in den Karton ließ sich das unmöglich beurteilen. Aber dort drin mussten weit über tausend Seiten liegen, die meis ten in einem einzigen hohen Stapel, aber viele auch wie zum Auspolstern seitlich hineingestopft. Falls dies ein Roman war, der den ganzen Karton ausfüllte, musste er länger als Vom Winde verweht sein. War das möglich? Lisey hielt es für denk bar. Scott zeigte ihr jede seiner fertigen Arbeiten und manch mal auch gern unfertige (ein Privileg, das nicht einmal sein langjähriger Lektor Carson Foray genoss), allerdings nur, wenn sie danach fragte. Und er war bis zuletzt sehr produktiv gewesen. Daheim oder unterwegs … Scott Landon schrieb im mer und überall.
Aber einen Roman mit tausend Seiten? Den hätte er garan tiert irgendwann erwähnt. Bestimmt ist das nur eine Kurz geschichte – noch dazu eine, die ihm nicht gefallen hat. Und der restliche Inhalt des Kartons, die darunter liegenden und seitlich hineingestopften Seiten? Vermutlich Kopien anderer Manuskripte. Oder Fahnenabzüge. Das, was er »unsauberes Material« genannt hat.
Aber hatte er nicht alle korrigierten Fahnen der Pitt für die Scott-Landon-Sammlung ihrer Bibliothek geschickt? Mit an deren Worten: damit die Inkunks darüber sabbern konnten? Und falls diese Kartons Kopien seiner frühen Manuskrip te enthielten, wie kam es dann, dass in den mit ARCHIV be zeichneten Schränken im Obergeschoss weitere Kopien (meis tens Durchschläge aus uralter Zeit) lagerten? Und was war eigentlich mit den Kammern gegenüber des ehemaligen Hüh nerstalls? Was lagerte in denen?
Lisey blickte auf, fast als wäre sie Supergirl und könnte die Antwort mit ihrem Röntgenblick sehen, und in dieser Sekun de klingelte erneut das Telefon auf ihrem Schreibtisch.
Mit wenigen raschen Schritten war sie am Schreib tisch und riss den Hörer mit einer Mischung aus unbestimm ter Angst und Gereiztheit von der Gabel … etwas mehr gereizt als ängstlich. Es lag im Bereich des Möglichen – gerade so –, dass Amanda beschlossen hatte, sich wie van Gogh ein Ohr abzusäbeln oder sich die Kehle durchzuschneiden, statt sich wie bisher mit Schnitten in Arme und Beine zu begnü gen, aber das bezweifelte Lisey. Darla war schon immer die Schwester gewesen, die drei Minuten nach dem Auflegen nochmals angerufen und gesagt hatte: Gerade fällt mir ein, was ich dir noch erzählen wollte.
»Was gibt's, Darl?«
Am anderen Ende herrschte einige Augenblicke lang Schwei gen, dann fragte eine Männerstimme, die ihr bekannt vor kam: »Mrs. Landon?«
Jetzt war es Lisey, die schwieg, während sie eine Liste von Männernamen durchging. Eine neuerdings ziemlich kurze Liste; es war erstaunlich, wie der Tod ihres Mannes den Kreis ihrer Bekannten hatte schrumpfen lassen. Da gab es Jacob Montano, ihren Rechtsanwalt in Portland; Arthur Williams, den Vermögensverwalter in New York, der jeden Landon-Dollar zweimal umdrehte, als wäre es sein eigenes Geld; Deke Williams – mit Arthur nicht verwandt –, der Bauunternehmer aus Bridgton, der den leeren Heuboden über der Scheune in Scotts Büro umgebaut und auch die ehemals düsteren Räume im ersten Stock ihres Hauses in ein Wunderland aus Licht ver wandelt hatte; Smiley Flanders, der Klempner drüben in Motton mit seinem
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