Love
Salbenpröbchen. Aus der linken Vordertasche ihrer sackartigen Jeans ragten zwei zu sammengefaltete Rezepte.
»Ich denke, wir können gehen«, sagte Amanda, die noch immer die hochnäsige Grande Dame spielte.
Lisey fand, dass das zu gut klang, um wahr zu sein, selbst wenn man berücksichtigte, dass der behandelnde Arzt relativ jung war und inzwischen mehrere neue Patienten hatte. Und sie behielt recht. Die Krankenschwester lehnte sich aus dem UNTERSUCHUNGSRAUM 1 wie ein Lokführer aus seinem Füh rerstand und fragte: »Sie sind Miss Debushers Schwestern, Ladys?«
Lisey und Darla nickten. Schuldig im Sinne der Anklage, Euer Ehren.
»Der Doktor möchte Sie kurz sprechen, bevor Sie gehen.« Damit zog sie ihren Kopf in den Raum zurück, aus dem noch immer das Schluchzen des Mädchens drang.
Hinter ihnen im Wartezimmer brachen die beiden nach Bier riechenden Männer wieder in Gelächter aus, und Lisey dachte: Was ihnen auch fehlen mag … den Unfall haben sie anscheinend nicht verursacht. Und tatsächlich schienen sich die Cops auf einen blassen Jungen im selben Alter wie das weinende Mädchen mit den blutigen Haaren zu konzentrie ren. Ein weiterer Junge hielt das Münztelefon besetzt. Er hat te eine aufgeschlitzte Wange, die bestimmt genäht werden musste. Ein dritter Junge wartete darauf, ebenfalls telefonie ren zu können. Er hatte keine sichtbaren Verletzungen.
Amandas Handflächen waren mit einer weißlichen Salbe bedeckt. »Er hat gesagt, Stiche würden nur ausreißen«, erklär te sie ihren Schwestern fast stolz. »Und Verbände würden nicht halten, denke ich. Ich soll sie mit diesem Zeug ein cremen – puh, das stinkt, was? – und in den nächsten Tagen dreimal täglich baden. Ich habe ein Rezept für die Salbe und eins für das Heilbad. Er hat gesagt, ich soll meine Hände mög lichst gestreckt lassen. Wenn ich was aufheben muss, soll ich es so machen.« Amanda klemmte sich ein prähistorisches Heft von People zwischen Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand, hob es ein kleines Stück hoch und ließ es dann wieder fallen.
Die Krankenschwester tauchte erneut auf. »Dr. Munsinger möchte Sie jetzt sprechen – eine oder beide.« Ihr Ton signali sierte, dass die Zeit drängte. Lisey und Darla hatten Amanda zwischen sich sitzen. Jetzt wechselten sie an ihr vorbei einen Blick. Amanda merkte nichts davon. Sie studierte mit sicht lichem Interesse die Leute auf der anderen Seite des Warte zimmers.
»Geh du nur, Lisey«, sagte Darla. »Ich bleibe bei ihr.«
1O Die Krankenschwester führte Lisey in den UNTERSU CHUNGSRAUM 2 , dann ging sie mit so fest zusammengepress ten Lippen, dass sie fast verschwanden, zu dem schluchzenden Mädchen zurück. Lisey sank auf den einzigen Stuhl und betrachtete das einzige Bild an der Wand, das einen wuscheligen Cockerspaniel in einem Narzissenbeet zeigte. Schon wenige Augenblicke später (sie hätte bestimmt länger warten müssen, wenn er sie nicht so schnell loswerden wollte) kam Dr. Munsinger hereingehastet. Er schloss die Tür, hinter der das Mädchen weiter laut schluchzte, und parkte eine magere
Gesäßbacke auf dem Untersuchungstisch.
»Ich bin Hal Munsinger«, sagte er.
»Lisa Landon.« Sie streckte ihm die Hand hin. Dr. Munsin ger schüttelte sie kurz.
»Ich hätte gern mehr Informationen über die Situation Ihrer Schwester – für die Krankenakte, wissen Sie –, aber wie Sie sehen, bin ich voll ausgelastet. Ich habe Verstärkung angefor dert, aber bis dahin geht es hier rund.«
»Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie überhaupt Zeit für mich haben«, sagte Lisey. Noch dankbarer war sie für die ruhige Stimme, die sie aus ihrem eigenen Mund kommen hörte. Alles unter Kontrolle, besagte diese Stimme. »Ich bin be reit, Ihnen zu bestätigen, dass bei meiner Schwester Amanda keine Selbstgefährdung vorliegt, falls Ihnen das Sorgen be reitet.«
»Nun, wissen Sie, das beunruhigt mich etwas, ja, ein wenig, aber ich werde mich auf Ihr Wort verlassen. Und auf das Ihrer Schwester. Sie ist volljährig, und diese Sache war offenbar kein Selbstmordversuch.« Er notierte sich etwas auf einem Klemmbrett. Nun sah er Lisey an, und sein Blick war unan genehm durchdringend. »Oder etwa doch?«
»Nein.«
»Nein. Andererseits braucht man kein Sherlock Holmes zu sein, um zu sehen, dass Ihre Schwester sich nicht zum ersten Mal selbst verstümmelt hat.«
Lisey seufzte.
»Sie hat mir erzählt, dass sie eine Therapie gemacht hat – aber ihre Therapeutin ist nach Idaho
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