Love
»Hören Sie mir doch zu – natürlich habe ich an der Pitt eine E-Mail-Adresse, aber die habe ich Dooley nie gegeben! Das wäre blödsinnig gewesen! Ich habe zwei Doktoranden, die dort regelmäßig die Mails einsehen
– von der Sekretärin der Englischfakultät ganz zu schweigen!« »Und zu Hause?« »Ich habe ihm meine private E-Mail-Adresse gegeben, ja,
aber die hat er nie benutzt.«
»Was ist mit seiner Telefonnummer, die Sie haben?«
Darauf herrschte einen Augenblick lang Schweigen, und als Woodbody wieder sprach, klang seine Stimme ehrlich ver wirrt. Das ängstigte Lisey noch mehr. Sie sah zu dem großen Wohnzimmerfenster hinüber und stellte fest, dass der Himmel im Nordosten purpurrot gefärbt war, wie eine alte Prellung. Es würde bald Nacht werden. Sie hatte das Gefühl, dass ihr eine lange Nacht bevorstand.
»Telefonnummer?«, sagte Woodbody. »Seine Telefonnum mer hat er mir nie gegeben. Nur eine E-Mail-Adresse, die zweimal funktioniert hat und dann nicht mehr. Er hat entwe der gelogen oder fantasiert.«
»Was glauben Sie?«
Woodbody flüsterte beinahe: »Ich weiß es nicht.«
Lisey war überzeugt, dass dies Woodbodys Hosenscheißer
manier war, nicht zuzugeben, was er wirklich dachte: dass Dooley verrückt war.
»Bleiben Sie einen Augenblick dran.« Sie wollte den Hörer aufs Sofa legen, fügte dann aber warnend hinzu: »Seien Sie bloß noch da, wenn ich zurückkomme, Professor.«
Wie sich zeigte, brauchte sie doch keinen der Gasbrenner zu benutzen. In einem Messingzylinder neben dem Kamin geschirr steckten lange dekorative Streichhölzer fürs Kamin feuer. Sie hob eine Salem Light vom Fußboden auf und riss eines der langen Hölzer an der Kaminplatte an. Sie nahm eine Keramikvase als provisorischen Aschenbecher mit, legte die Blumen einstweilen beiseite und überlegte sich dabei (und nicht zum ersten Mal), dass das Rauchen zu den hässlicheren Gewohnheiten zählte, die man haben konnte. Dann ging sie zurück zum Sofa, setzte sich und griff wieder nach dem Tele fonhörer. »Erzählen Sie mir, was passiert ist.«
»Mrs. Landon, meine Frau und ich wollen ausgehen …« »Ihnen ist gerade etwas dazwischengekommen«, sagte Lisey. »Fangen Sie mit dem Anfang an.«
6 Nun, am Anfang waren natürlich die Inkunks, diese heidnischen Götzendiener aller Originaltexte und unveröf fentlichten Manuskripte, und Professor Joseph Woodbody, der aus Liseys Sicht ihr König war. Gott allein wusste, wie viele gelehrte Artikel er über das Werk Scott Landons veröffentlicht hatte oder wie viele noch immer in der Bücherschlange über der Scheune vor sich hin staubten. Auch war es ihr egal, wie sehr Professor Woodbody unter der Vorstellung gelitten haben mochte, in Scotts Büro könnten auch noch unveröffentlichte Werke vor sich hin stauben. Entscheidend war, dass Woodbody es sich angewöhnt hatte, an zwei bis drei Abenden pro Woche auf der Nachhausefahrt vom Campus zwei bis drei Bierchen zu trinken – immer in der gleichen Bar, einem Laden namens The Place. Im Umkreis der Pitt gab es zahlreiche Studentenkneipen, teils einfache Lokale, in denen das Bier in Krügen ausgeschenkt wurde, teils schickere Bars, die von Professoren und klassenbewussten höheren Semestern frequentiert wurden – die Art Bars mit Grünlilien in den Fenstern und »Bright Eyes« statt »My Chemical Romance« in der Jukebox. Das Lokal war eine Arbeiterkneipe ungefähr eine Meile vom Campus entfernt, und der einem Rocksong ähnlichste Titel in ihrer Jukebox war ein Duett von Travis Tritt und John Mellencamp. Woodbody erzählte, dass er gern dort einkehrte, weil es dort unter der Woche nachmittags und am frühen Abend ruhig war und das Ambiente ihn an seinen Vater erinnerte, der in einem Walzwerk der U. S. Steel gearbeitet hatte. (Lisey war Woodbodys Vater scheißegal.) In dieser Bar hatte er den Mann kennengelernt, der sich Jim Dooley nannte. Dooley, der ebenfalls bevorzugt am späten Nachmittag oder frühen Abend trank, war ein zurückhaltend-freundlicher Mann, der meist graublaue Arbeitshemden aus Baumwolle und Dickies mit dazu passenden Manschetten trug, wie sie auch Woodbodys Vater getragen hatte. Woodbody beschrieb Dooley als ungefähr eins fünfundachtzig groß, schlaksig, mit leicht gebeugter Haltung und schütter werdenden dunklen Haaren, die ihm oft in die Stirn fielen. Er meinte, Dooleys Augen wären blau gewesen, war sich seiner Sache aber nicht ganz sicher, obwohl sie sechs Wochen lang an fast jedem Werktag nachmittags
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