Lovesong
Gesicht, so als wüsste sie etwas, wovon wir anderen nichts ahnen.
»Du lächelst ja«, meint Mia zu mir.
Und erst da fällt mir auf, dass ich das wahrhaftig tue. Vielleicht liegt es daran, dass ich plötzlich das Gefühl habe, etwas tun zu können, das ich bisher für ein Ding der Unmöglichkeit hielt. Oder der Gesichtsausdruck der Statue ist schlichtweg ansteckend.
»Sie ist schön«, meint Mia. »War lange nicht mehr hier.«
»Schon witzig«, erwidere ich, »ich habe gerade über sie nachgedacht.« Ich zeige auf die Statue. »Es kommt einem so vor, als trage sie irgendein Geheimnis in sich. Das Geheimnis des Lebens.«
Mia sieht auf. »Ja. Ich weiß, was du meinst.«
Ich lasse die Luft zwischen meinen Lippen entweichen. » Ich könnte dieses Geheimnis ziemlich gut brauchen.«
Mia lässt den Kopf über die Reling hängen. »Echt? Dann frag sie doch danach.«
»Ich soll sie fragen?«
»Na, sie steht direkt vor uns. Und außer uns ist niemand hier. Keine Scharen von Touristen, die um ihre Füße herumwuseln wie winzige Ameisen. Frag sie nach ihrem Geheimnis.«
»Nein, mach ich nicht.«
»Willst du, dass ich es tue? Könnte ich schon, aber es ist doch deine Frage.«
»Redest du öfter mit Statuen?«
»Ja. Und mit Tauben. Also, was ist? Fragst du sie?«
Ich sehe Mia an. Sie hat die Arme vor der Brust verschränkt und wirkt ein wenig ungeduldig. Ich drehe mich zurück zum Geländer. »Ähm. Statue? Oh höre mich, Freiheitsstatue«, rufe ich zaghaft in die Stille hinein. Da ist niemand außer uns, und trotzdem ist mir das alles furchtbar peinlich.
»Lauter«, drängt Mia mich.
Zum Teufel! »Hey, Freiheitsstatue«, rufe ich, diesmal lauter, »was ist dein Geheimnis?«
Wir sperren gespannt die Ohren auf und lauschen, als würden wir erwarten, dass ohne Umschweife eine Antwort über das Wasser zu uns dringt.
»Was hat sie gesagt?«, fragt Mia.
»Freiheit.«
»Freiheit«, wiederholt Mia und nickt zustimmend. »Nein, warte, ich glaube, da war noch mehr. Warte kurz.« Sie beugt sich über die Reling, und ihre Augen werden groß. »Hmm. Hmm. Aha.« Sie wendet sich mir zu. »Offensichtlich trägt sie keine Unterwäsche unter ihrem Gewand, und bei der starken Brise hier verspürt sie ein leichtes Frösteln.«
»Aha. Fräulein Freiheit trägt also keine Unterwäsche«, sage ich. »Das ist ja so typisch für diese Französinnen.«
Mia lacht sich über diesen Kommentar kaputt. »Meinst du, sie schockiert manchmal Touristen damit, dass sie ihren Rock hebt?«
»Auf keinen Fall! Was meinst du wohl, warum sie diesen verschlossenen Ausdruck im Gesicht trägt? All diese republikanischen Puritaner, von denen Bootsladungen voll hierherkommen, die würden doch nie im Leben erwarten, dass ihre gute alte Freiheitsstatue kein Höschen anhaben könnte. Vielleicht ist sie da unten ja sogar rasiert.«
»Das will ich mir jetzt gar nicht bildlich vorstellen«, stöhnt Mia. »Und darf ich dich daran erinnern, dass wir selbst aus einem republikanischen Bundesstaat stammen? Zumindest irgendwie.«
»Oregon ist ein gemischter Staat«, erwidere ich. »Wir haben die Rednecks im Osten und die Hippies im Westen.«
»Wo wir gerade von Hippies und Leuten ohne Unterwäsche reden …«
»Oh nein. Das will ich mir jetzt wiederum nicht vorstellen.«
»Der Oben-ohne-Tag!«, kräht Mia. Sie meint ein Überbleibsel aus den Sechzigern in unserer Heimatstadt. Einmal im Jahr läuft ein Haufen Frauen einen ganzen Tag lang barbusig durch die Gegend, um dagegen zu protestieren, dass Männer problemlos ohne Hemd rumlaufen dürfen, Frauen aber nicht. Sie machen das im Sommer, und da kriegt man immer eine Menge ältere runzelige Haut zu sehen. Mias Mom hat öfter damit gedroht, da mitzumachen, doch ihr Mann lud sie dann jedes Mal zum Abendessen in ein schickes Restaurant ein, um sie davon abzubringen.
»›Finger weg von unseren BH s‹«, zitiert Mia einen der dämlichen Slogans dieser Bewegung, wobei sie sich vor Lachen biegt. »Das ergibt doch keinen Sinn. Wenn man schon barbusig rumläuft, was redet man denn dann von BH s?«
»Sinn? Das war doch die Idee von irgendwelchen bekifften Hippies. Und da suchst du nach einem logischen Zusammenhang?«
»Oben-ohne-Tag«, sagt Mia noch einmal und wischt sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Unser gutes altes Oregon! Das ist ja eine Ewigkeit her.«
Und das ist es tatsächlich. Deshalb hätte sich diese Bemerkung auch nicht wie eine Ohrfeige anfühlen dürfen, aber es ist nun mal so. »Wie kommt es,
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